Das sanfte Rauschen der Wellen erfüllte Martens gesamte Wahrnehmung. Sein Dasein war begrenzt und befreit zugleich von dem ewigen Rhythmus, in dem Welle um Welle an den Ufergestaden brachen.
Es beruhigte ihn, erdete ihn, wenn er nachts vor dem Schlafengehen noch für einige Minuten hier draußen stehen konnte, sich gegen den ewigen Wind stemmte und der Welt beim Atmen lauschte. Ein und aus. Welle um Welle.
Er liebte das Meer in jeglicher Laune. Ob zart und behutsam oder zornig und stürmisch, hier war er zu Hause. Ob der Wind nun zärtlich über sein Gesicht streichelte oder wild fauchte oder ihn sogar brutal niederzuringen versuchte, er begrüßte seine Umarmung. Am Strand zu stehen, das Salz auf der Haut zu spüren, es zu riechen, im Sand zu versinken und Welle um Welle um Welle zu lauschen – das war der eine Moment, in dem er sich frei fühlte. Losgelöst von dem Leid, das sein alltägliches Leben bedeutete. In stürmischen Nächten wagte Marten es, barfuß über den Strand zu rennen und laut zu singen, zu schreien, vollkommen aus sich herauszugehen. So lange, bis er seine Kleidung von sich warf und nackt in die sprühende Gischt hineinlief, sich von der puren Gewalt des Wassers zu Fall bringen ließ, bis er halb erfroren und völlig erschöpft auf allen Vieren zurück an den Strand kroch.
Heute war es ruhig. Der Wind blies frostig kalt, wie es für den Übergang zwischen Winter und Frühling normal war, doch es blieb bei einzelnen Böen und ansonsten eher sanften Verwehungen. In solchen Nächten würde Marten niemals schreien oder ein Lied anstimmen. Die Gefahr, dass man ihn bis zum Haus hinauf hören könnte, auch wenn es rund dreihundert Schritt entfernt von hier hinter den Dünen und dem großen Schutzdamm stand, war ihm zu erdrückend. Niemand durfte ihn hören. Niemand sollte wissen, dass er sich Nacht um Nacht davonschlich, obgleich sie ihn sicher in seinem Keller eingeschlossen glaubten.
Seufzend blickte Marten zum Mond hinauf, der so weit fern zu sein schien heute Nacht. Winzig klein und fast gerundet. Er umfasste seinen Anhänger, den er seit seiner Geburt trug. Sein einziger Besitz, abgesehen von der Kleidung. Die erhielt er von seinen älteren Brüdern und musste sie auftragen, bis sie ihm in Fetzen vom Leib fielen. Das war in Ordnung, soweit. Er verstand, warum sein Leben so sein musste, wie es nun einmal war. Aus diesem Grund kam auch eine Flucht nicht für ihn infrage, obwohl es mit Leichtigkeit möglich wäre. Marten könnte jederzeit den Fängen seiner Familie entfliehen … Und war so gründlich mit unsichtbaren Ketten an das Haus gebunden, dass es schlichtweg unmöglich war. Keine Freiheit für ihn, außer jene gestohlenen Minuten einmal pro Nacht. Es half, um durchzuhalten.
Das man ihm seinen Anhänger beließ, war die größte Gnade überhaupt, auf die er hoffen konnte. Seine Mutter hatte es ihm geschenkt. Ein silberner Anhänger. Zwei fein stilisierte Fische, die in unterschiedliche Richtungen schwammen. Sie waren das perfekte Symbol für ihn. Ein Teil seiner Seele sehnte sich nach dem Meer und der Freiheit. Der andere Teil blieb freiwillig ein Gefangener.
Marten küsste den Anhänger, dankte Lourdra, der Göttin des Lebens, das er atmete und sein Herz schlug. Das zweite kurze