: Hans-Ulrich Jörges
: Der Schrei des Hasen Lebensbeichte eines Kolumnisten
: Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
: 9783841908087
: 1
: CHF 17.50
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 416
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hans-Ulrich Jörges zählt zu den führenden Journalisten Deutschlands. In seiner Autobiografie gewährt er überraschende Einblicke in sein hochspannendes Leben. Nachdem sein Vater in der DDR zur Mitarbeit für die Staatssicherheit erpresst wurde, floh er über Nacht in den Westen. Die Familie begann dort ein Leben in Armut. In seiner Jugend war Jörges linksradikal, erlebte den gleitenden Übergang von politischem Widerstand zu RAF und Revolutionären Zellen, zwei Bekannte wurden zu Figuren des internationalen Terrorismus. Auch Jörges bewaffnete sich, bis ihn einschneidende Erlebnisse zur radikalen Umkehr bewegten. Er wurde politischer Journalist und gelobte Unbestechlichkeit, arbeitete unter anderem für die 'Süddeutsche Zeitung', 'Die Woche' und viele Jahre in der Chefredaktion des 'stern', wo er entscheidend am Sturz von Rudolf Scharping als Verteidigungsminister beteiligt war. Mit Spitzenpolitikern wie Angela Merkel, Hans-Dietrich Genscher, Joschka Fischer oder Oskar Lafontaine pflegte er regelmäßigen Umgang. Seine 'Lebensbeichte' ist ein wunderbarer Lesegenuss durch 70 Jahre Zeit- und Mediengeschichte.

Hans-Ulrich Jörges, 1951 in Bad Salzungen/Thüringen geboren, startete seine journalistische Karriere bei der Nachrichtenagentur Reuters. Ab 1986 arbeitete er für die 'Süddeutsche Zeitung', dann 1989 der Wechsel zum 'stern', wo er 2007 Mitglied der Chefredaktion und Chefredakteur für Sonderaufgaben des Verlags Gruner+Jahr wurde. 2004 wurde er zum politischen Journalisten des Jahres gekürt. Jörges initiierte u.a. die Europäische Charta für Pressefreiheit und das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit in Leipzig. Für den 'stern' schrieb Jörges bis zu seinem Ausscheiden Ende Juli 2020 insgesamt 960 Kolumnen. Er lebt in Berlin.

Was, zum Teufel, tat ich hier? Nie zuvor und niemals danach habe ich mich so weit entfernt von meinen moralischen Standards, von meinem Überzeugungskern, von Herz und Verstand. Was hat mich so deformiert, in wenigen Jahren, dass ich, der Kriegsdienstverweigerer, nach hochnotpeinlicher Befragung des Gewissens in erster Instanz anerkannt von einem Prüfungsausschuss, nun hier stand, auf freiem Feld, mit einem Gewehr in der Hand? Neben mir zwei der drei Freunde aus der Frankfurter Wohngemeinschaft, zeittypische Linksradikale wie ich, auch sie bewaffnet. Die halbautomatischen Kleinkalibergewehre – jede Patrone wird als Einzelschuss abgefeuert, nur die erste aber vom Schützen in den Lauf gehoben, die folgenden automatisch aus dem Magazin nachgeladen –, jene durchaus tödlichen Waffen also haben wir zu dritt bei einem Händler in der Frankfurter Innenstadt gekauft. Nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. Das war Anfang der 70er umstandslos möglich, Volljährigkeit reichte. Ich war 20. Wir wurden nicht gefragt, wofür wir die Gewehre denn bräuchten. Aus freien Stücken tischten wir dem Waffenhändler das Märchen auf, wir wollten uns einem Schützenverein anschließen, um dort, auf dessen Schießanlage, gelegentlich das zu betreiben, was der Klub Sport nannte.

Schießsport aber bewegte uns, die wir uns gegenseitig Genossen nannten, keineswegs. Die Bewaffnung sollte uns vorbereiten auf revolutionäre Zeiten. Irgendwie. Diffus. Vorbereiten auf die linke Revolution in der Bundesrepublik, von der wir spätpubertär fantasierten bei Joints und Roll ‘n’ Roll und die, davon waren wir überzeugt, ohne Waffengewalt gegen die Büttel des Systems nun mal nicht zu haben war. Eine Revolution ist kein Deckchensticken, hatte Mao geschrieben in seiner kleinen, roten Bibel. Oder auch rüsten gegen einen faschistischen Putsch, den wir nach den unlängst durchgedrückten Notstandsgesetzen und nach unseren eigenen Demonstrationserfahrungen mit der Polizei an den Brennpunkten Frankfurts in greifbarer Nähe wähnten. Benno Ohnesorg war 1967 bei Protesten gegen den Berlin-Besuch des Schahs von Persien im Halbdunkel eines Hinterhofs von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras, vier Jahrzehnte später als Stasispitzel enttarnt, per Kopfschuss getötet worden. Im folgenden Jahr wurde Rudi Dutschke, Ikone der Rebellen, auf dem Kurfürstendamm in Berlin von einem verhetzten Rechtsradikalen niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt.

Die schießen wieder, die wollen uns umbringen! Der Satz wurde zum Mantra der Linksradikalen. Die Schöpfer des linken Terrorismus, die Gründer der Roten Armee Fraktion (RAF), fügten hinzu: Also müssen wir uns bewaffnen. Auch ich nahm den verhängnisvollen Satz: »Die schießen wieder« auf, wog ihn ab und stimmte dem Befund zu. Selbst meine Mutter, deren Liebe die linksradikale Verdrehung des Sohnes nicht zu brechen vermochte, teilte die Sorge, instinktiv. Sie hatte noch aus der Zeit vor der Flucht und Übersiedlung der Familie aus der DDR ein Sperrkonto bei der Sparkasse meiner Thüringer Heimatstadt. Ein paar Tausend Mark, die sie nicht ausgeben, nur in streng limitierten Kleinstbeträgen abheben durfte, wenn sie zum Besuch ihrer Schwester zurück in den Osten kam. Sie hätte das Konto auflösen und das Geld der Schwester schenken können. Doch sie entschied sich anders, aus Sorge um den Sohn. »Falls du mal ins Exil in die DDR gehen musst, wirst du das Geld gut gebrauchen können«, eröffnete sie mir eines Tages. Ich hatte nur Spott dafür übrig. Niemals! Den Sozialismus der DDR verachtete ich. Unfrei, bürokratisch, degeneriert. Ich schwadronierte, wenn die Eltern nach meinen Vorstellungen fragten, und das war ziemlich oft, von einer Räterepublik, radikaldemokratisch, kulturrevolutionär. Die Räte sollten laufend basisdemokratisch neu gewählt werden und damit die Veränderungen der Zeitstimmung widerspiegeln. Unreif, chaotisch, dieses Konzept, zugegeben. Aber ungemein spannend. »Fantasie an die Macht«, lautete die Parole des revolutionären Mai 1968 in Paris, die mir am besten gefiel.

Dem Terrorismus aber wollte ich mich nicht verschreiben. Untergrund kam nicht in Frage, jedenfalls nicht so, wie ihn die RAF vorexerzierte. Militärisch. Rigide. Zum Fürchten. Auch wen