: Gudrun Lerchbaum
: Das giftige Glück Roman
: Haymon
: 9783709939680
: 1
: CHF 10.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Stadt in gespenstischer Ekstase. Etwas Leuchtendes liegt in der Luft. Befällt Pflanzen. Und Menschen. Ist überall. Angenommen, der Rausch deines Lebens, die pure Euphorie wächst frei zugänglich im Park um die Ecke. Der einzige Haken dieser Substanz: Du kannst sie nur ein einziges Mal genießen. Denn sie ist hochgiftig und ohne Ausnahme tödlich. Auch wenn der Tod, den sie verspricht, süßer denn je ist. Was würdest du tun? Zugreifen? Oder widerstehen? Als ein bis dahin unbekannter Pilz den Bärlauch rund um Wien befällt, steigt die Zahl der Todesfälle rasant an. Denn wie in jedem Frühling dominiert das Kraut nicht nur die Speisekarten vieler Lokale, sondern auch die Wälder der Stadt, die - aller Verbote zum Trotz - gestürmt werden. Versehentliche Vergiftungen werden bald zu praktischen Beseitigungen von lästigen Langzeitfeind*innen, auch die Partyszene der Stadt entdeckt Viennese Weed für sich. Und die befallene Pflanze bietet eine weitere für viele verlockende Möglichkeit: die Trostlosigkeit des Lebens zu beenden. Selbstbestimmt, friedlich und ohne einer anderen Person Schaden zuzufügen. Ein Waldspaziergang der Verzweifelten Nach einem Gefängnisaufenthalt versucht Kiki, zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Als ihre unheilbar kranke Freundin Olga rund um die Uhr Pflege benötigt, zieht sie zu ihr und kümmert sich aufopfernd. Das neuartige Viennese Weed ist für Olga eine Möglichkeit zur Flucht, die sie ergreifen möchte. Für Kiki ein Albtraum, dem sie nicht entkommen kann. Dennoch ist sie bereit, für ihre Freundin die tödlichen Blätter zu beschaffen, auch wenn sie weiß, dass das für sie den ultimativen Abschied von Olga bedeuten kann. Auch die dreizehnjährige Jasse treibt es in den Wald. Aus Wut, Trauer und Verzweiflung möchte sie ihrem Leben ein Ende setzen. Als plötzlich Aufseher auftauchen, fliehen Kiki und Jasse zusammen - und knüpfen eine vorsichtige Verbindung, eine Freundschaft, die sich aus Unglück speist. Das hält Jasse allerdings nicht davon ab, den Bärlauch, den sie gesammelt hat, zum Einsatz zu bringen - allerdings nicht an sich selbst ... Während Jasse mit ihrem Gewissen kämpft, breitet sich der Bärlauch-Befall immer weiter aus, dominiert die internationalen Medien, befeuert neue Verschwörungstheorien. &# 3; Viennese Weed ist Ausweg, Waffe und Droge zugleich. Bedeutet aber auch: eine Wahl haben, selbstbestimmt leben und sterben dürfen. Gudrun Lerchbaum blickt mit viel Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt von Menschen, die unheilbar krank, von denen, die voller Verzweiflung sind, einen Ausweg suchen. Sie kratzt an einem Tabu, bringt den sonst oft verdrängten Tod in die Mitte der Gesellschaft und stellt unangenehme Fragen: Gehört zu einem selbstbestimmten Leben nicht auch ein selbstbestimmtes Sterben? Was passiert mit uns, wenn es plötzlich eine friedliche, einfache Möglichkeit dazu gibt? Und was tun wir, wenn die Menschen, die wir am meisten lieben, sich dazu entschlossen haben? Sie zeigt, wie die Nähe des Todes das Menschlichste in uns hervorbringt - und dass stark sein nicht immer bedeuten muss, das Unerträgliche zu ertragen.

Gudrun Lerchbaum, aufgewachsen in Wien, Paris und Düsseldorf, war schon Plakatkleberin, Philosophiestudentin und Weihnachtskartendesignerin. Seit Abschluss ihres Architekturstudiums an der TU Wien arbeitet sie als Architektin und freischaffende Künstlerin. Nach zahlreichen Texten und Kurzgeschichten erschien 2015 ihr erster Roman 'Die Venezianerin und der Baumeister'. 2016 und 2018 folgten 'Lügenland' und 'Wo Rauch ist'. Ihre Sprache fesselt, rüttelt wach, zeichnet und verwischt Konturen von Protagonist*innen, die uns auch nach dem Lesen noch lange begleiten. Für ihr Werk erhielt Lerchbaum diverse Auszeichnungen und Stipendien, u.a. der Stadt Wien. In 'Das giftige Glück' (Haymon, Januar 2022) versetzt Gudrun Lerchbaum eine Stadt in Ekstase und fragt, was zu einem selbstbestimmten Leben gehört.

Tag 1


Noch ein paar Zentimeter! Lautlos beschwor Olga ihre Hand, den Arm, der sich nicht weiter heben wollte. Fünf, nein drei, nur noch lächerliche drei Zentimeter. Doch die Erstarrung hielt dagegen, sturer als sie. Die Gabel kippte. Lasagne klatschte in ihren Schoß. Wortlos entwand Kiki ihr das Besteck, löste es aus den krampfenden Fingern und kratzte die Sauerei von der Hose.

Olga umfasste die versagende Hand mit der anderen, der es so viel besser auch nicht ging, in der vagen Hoffnung, die Spastik durch Eigenzärtlichkeit zu besänftigen. Der Schmerz zersplitterte ihre Gedanken.

Endlich brachte Kiki einen Joint, hielt ihn ihr an die Lippen.

Ruhig bleiben. Das war alles im Rahmen. Nicht kämpfen. Die feindlichen Truppen widerstandslos durchziehen lassen, um die unvermeidliche Verwüstung so gering wie möglich zu halten. Atmen. Ein. Und aus. Ein Atemzug, ein Zug am Joint.Unheilbar, hämmerte es in ihrem Kopf.Unheilbar, unheilbar, unheilbar.

„Wird es?“, fragte Kiki und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. So leicht, dass man meinen konnte, sie fürchte eine Zurechtweisung. Es schien, als wäre es Olga endlich gelungen, alle Welt von ihrem unbedingten Recht auf Selbstbestimmung zu überzeugen. Nun wagte es nicht einmal mehr ihre einzige Freundin, sie umstandslos in den Arm zu nehmen, wenn es nötig war, und zog sich stattdessen auf ihre professionelle Rolle als Assistentin zurück.

„Muss“, presste Olga hervor, nahm einen tiefen Zug und hinderte Kiki mit einem Ruck des Kopfes daran, ihr den Joint wieder abzunehmen, der sicher an ihrer Lippe klebte. Noch immer war kaum Erleichterung spürbar, obwohl sie das Ding schon zu Matsch geraucht hatte. „Muss ja.“

Kikis „Ja, muss wohl“ klang erbärmlich unentschlossen.

Die Glut kam ihren Lippen näher, zu nah. Doch anstatt Kiki zu signalisieren, dass sie ihr den Stummel abnehmen sollte, neigte Olga den Kopf und stieß ihn mit der Zunge seitlich weg. Er fiel auf den Boden. Selbst nach Jahren der Hilfsbedürftigkeit brachte sie es immer noch kaum fertig, um etwas zu bitten. Sie hatte einfach kein Talent zu chronischer Krankheit, war zu stolz für die Scheiß-MS. Mit Spucke kühlte sie die versengte Stelle auf ihrer Lippe, während Kiki sich bückte. Nicht schnell genug, um ein weiteres Brandmal auf dem Parkett zu verhindern. „Noch einen. Bitte.“

„Magst du nicht lieber die Tropfen? Oder einen Brownie? Sind noch genug im Tiefkühler.“

„Ich rauche lieber. Aber apropos Tropfen: Bring mir einen Whisky.“

Kiki zuckte mit den Schultern. „Deine Lunge, deine Leber. Aber Dr. Schneider hat gesagt, du sollst nicht …“

„Ich soll, was ich will.“

Endlich ließen die Krämpfe nach. Ein Wunder, dass Kiki trotz aller Grobheiten bei ihr blieb, sie nicht längst im Stich gelassen hatte. Natürlich war Olga dankbar für die Fürsorglichkeit, mehr als dankbar, das war hoffentlich auch ohne rührselige Worte klar. Schließlich profitierten sie beide von diesem Arrangement. Kaum anzunehmen, dass Kiki ohne die feste Struktur der Arbeit und ohne ihr Vertrauen nach der Haftentlassung Halt gefunden hätte. War Olga nicht die Einzige gewesen, die den Charme und die Güte unter Kikis beachtlicher Verstörung gesehen hatte? Sie waren quitt.

Kiki hielt ihr das Whiskyglas mit dem Strohhalm unter die Nase und Olga trank, obwohl schon der erste Kontakt mit der Flüssigkeit brannte. Es ging schließlich nicht um Genuss, sondern um Entspannung oder wenigstens Betäubung. Sie zog an dem zweiten Joint, obwohl sie auch dazu keine Lust mehr hatte.

„Tu weg“, sagte sie müde. „Ich hab so dermaßen die Schnauze voll. Von allem.“

„Heute ist ein Scheißtag. Morgen denkst du anders. War noch jedes Mal so.“ Kiki beugte sich zu ihr und legte die Arme um ihre Schultern. „Ich rackere mich doch nicht umsonst für dich ab. Halt gefälligst durch!“

„Muss denn dauernd gehofft werden?“ Olga spuckte ein Tabakfädchen aus. Lange würde das nicht mehr so gehen.

*

Als Jasse aus der Schule kam, war die Wohnung kalt wie eine Gruft. Ihr Vater ging nicht ans Telefon, und auf dem Thermostat herumzudrücken half ebenso wenig, wie die Gastherme über der Badewanne anzustarren. Sie ging in die Küche, trank ein Glas Wasser gegen die Enge in ihrer Kehle und öffnete die Kühlschranktür. Sie schob eine Schneise zwischen die Becher mit Kirschjoghurt und zog den Mayonnaisesalat heraus. An der Arbeitsplatte stehend schaufelte sie sich ein paar Gabeln voll in den Mund, bis ihr der saure Geschmack und die seifige Konsistenz auffielen. Nach einem Blick auf das Ablaufdatum würgte sie halbzerkaute Reste in die Abwasch, spülte sich den Mund aus und warf das Zeug in den Müll.

Die Schultasche hinter sich her schleifend, ging sie in ihr Zimmer. Trotz der Kälte roch es muffig. Sie kippte das Fenster, wickelte sich in ihre Bettdecke und setzte sich an den Schreibtisch, um die erste Aufgabe auf dem Mathearbeitsblatt zu lösen. Unter das Ergebnis zeichnete sie eine Reihe fetter Spinnen, lauschte dabei auf die Geräusche von draußen: Ein Auto. Noch eines. Dann der Bus in der Querstraße. Eine Plane knatterte im Wind. Taubenflügel raschelten beim Anflug auf das benachbarte Fensterbrett.

Auf dem Balkon gegenüber standen zwei Raucherinnen. Sie sahen zu ihr herüber, fragten sich möglicherweise, wer das Mädchen hinter dem Fenster war, überlegten, was sie dachte und ob sie umgekehrt auch von ihr bemerkt wurden. Jasse malte sich aus, wie die beiden hilflos zusehen mussten, wie die Stille in ihrem Rücken aufquoll, sie umschloss und ihr den Atem aus der Lunge presste. Sie wartete, bis die Frauen ihre Zigaretten ausdämpften und hinter der Balkontür verschwa