Am 31. Dezember war ich im Theater von Versailles, ein befreundeter Geiger und Sänger gab ein Konzert, zum letzten Mal konnte man ihn und sein Ensemble dort mit Musik aus Osteuropa hören – in seinem Geigenspiel fanden Belgrad, Warschau und Kiew zusammen, und in seinem Gesang mischten sich Jiddisch, Serbokroatisch und Rumänisch. Ich war 1999 bei einem seiner ersten Konzerte dabei gewesen, da war mein Sohn schon geboren, und ich konnte meinen Blick damals nicht abwenden von dem Sänger und Geiger, der mit derselben Vitalität zu tanzen verstand, mit der seine Finger über die Saiten sprangen, er war der meisterhafte Virtuose und Unterhalter auf der Bühne und im Saal, denn er spielte auf seinem Instrument und er spielte mit uns, er machte eine versunkene Welt wieder lebendig, die nicht die Welt meiner Eltern und nicht die meiner Großeltern war und deren Verschwinden mich umtrieb, denn, so dachte ich immer wieder, vor diesem Verschwinden, da hatte es Lebensgeschichten gegeben, so viele Lebensgeschichten, und ich war begierig noch nach der kleinsten Spur, die von ihnen Zeugnis ablegen konnte.
Als das Konzert zu Ende war, gingen wir nach oben, um die Musiker in ihren Künstlergarderoben zu umarmen, und tranken Champagner aus Plastikbechern, wir wussten nicht recht, ob wir unseren Freunden gratulieren sollten oder unser Bedauern bekunden, da wir erfahren hatten, dass sie nicht mehr auftreten würden. Es war spät geworden, wir hatten noch nicht zu Abend gegessen und warfen hungrige Blicke auf die Schälchen und das, was von den China-Nudeln übrig geblieben war, die die Regieassistenz am Nachmittag bestellt hatte. Wir beschlossen, zurück nach Paris zu fahren und dort den Rest des Abends zu verbringen, nicht um Silvester zu feiern, sondern nur, um noch gesellig beisammen zu sitzen, und so quetschten wir uns in das Auto einer Freundin.
Schlag Mitternacht fuhren wir am Eiffelturm vorbei und lachten: Wir, die wir auf gar keinen Fall Silvester feiern wollten, waren in der Höhle des Löwen gelandet. Dutzende Autos parkten am Rand der Uferstraße, jenseits der Autoscheiben umarmten sich die Menschen in stummer, unwirklicher Ausgelassenheit, es war eine Fröhlichkeit, die uns natürlich künstlich vorkam, aber vielleicht war sie es gar nicht, ich glaube, im Auto sagte einer: Fuck 2017.
Eine Stunde später tranken wir herrlichen Champagner und teilten uns ein Päckchen Industrietoast aus dem Lebensmittelladen und ein Stück Käse sowie ein Schälchen Trüffel-Ravioli, offenbar die Restposten in einem tadellos sauberen und sonst völlig leeren Kühlschrank. Die Unterhaltung drehte sich zunächst um das Konzert, dann wechselten wir zu dem Jahr, das hinter uns lag, und aus Gründen, die nicht zur Sprache kamen, war unser Thema Verlust. Wir sprachen von den Kindern, die unseren Schutz brauchten, die wir aber auch wappnen mussten, damit sie gut mit Verlusten fertig würden. Wir stießen auf die Freundschaft an und auf das Leben, und das war nichts Floskelhaftes, sondern etwas, was uns zutiefst am Herzen lag. Für mich war das zurückliegende Jahr das Jahr gewesen, in dem ich meine Geige wieder ausgegraben hatte, ein Wiedersehen, das mit meiner Aufnahme in ein Orchester besiegelt worden war.
Nach Jahrzehnten fast ganz ohne Geigenspiel hatte ich wieder hinter einem Notenständer meinen Platz eingenommen, und jeden Montagabend war mir das Stimmen der Instrumente, die sich in tastenden Versuchen dem Ziel eines harmonischen Zusammenklangs annäh