1. KAPITEL
„Nur noch acht Wochen bis Weihnachten. Hast du dich schon entschieden, wann du kommen willst? Es wäre schön, wenn du spätestens am Heiligabend anreist und dann bis Neujahr bleibst.“
Der energische Ton ihrer Mutter besagte, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde. Sie meinte es gut, aber die Vorstellung, mehrere Tage zusammen mit ihrer Mutter, anderen Verwandten und alten Freunden zu verbringen, grenzte an einen Albtraum. Alle würden daran denken, was letztes Jahr Weihnachten passiert war. Und angestrengt darauf achten, es ja nicht zu erwähnen, keine persönlichen Fragen zu stellen und sich natürlich zu geben.
Miriam holte tief Atem. „Es tut mir leid, ich werde Weihnachten nicht da sein.“
„Nicht da sein?“ Anne Browns Stimme wurde schärfer. „Was soll das heißen? Du willst doch wohl nicht etwa in diesem grässlichen Einzimmerapartment herumsitzen und Trübsal blasen?“
„Es ist nicht grässlich, und ich werde nicht herumsitzen und Trübsal blasen. Ich fahre zum Skilaufen in die Schweiz.“
„Skilaufen?“
Die Stimme ihrer Mutter klang so schrill, dass Miriam zusammenzuckte und das Telefon kurz von ihrem Ohr weghielt.
„Du kannst nicht Ski laufen.“
„Ich werde es lernen“, erklärte Miriam geduldig.
„Wann hast du dich dazu entschlossen?“
„Clara und ich haben gestern unsere Tickets gekauft.“
„Dass sie dahintersteckt, hätte ich wissen sollen.“ Jetzt hörte sich Anne Brown unverhohlen feindselig an.
„Ich habe Clara am Wochenende erzählt, was ich vorhabe, und sie hat gefragt, ob sie mitkommen könne. Vermutlich, weil sie ebenso wenig wie du möchte, dass ich Weihnachten allein bin“, erwiderte Miriam gereizt. Ihre Mutter hatte Clara nur ein einziges Mal getroffen. Und zwar an dem Tag, als Miriam in das Einzimmerapartment in Kensington gezogen war. Wegen der violett gefärbten Stachelfrisur, des Pandaaugen-Make-ups und der exzentrischen schwarzen Kleidung – ganz zu schweigen von den zahlreichen Piercings – hatte ihre Mutter Clara sofort als schlechten Einfluss abgestempelt.
In Wirklichkeit war Clara unglaublich witzig, nett und großzügig, und Miriam hatte keine Ahnung, wie sie ohne sie durch die vergangenen zehn Monate gekommen wäre.
„Du musst sie natürlich in Schutz nehmen.“ Anne schnaufte verächtlich. „Weiß Jay, dass du über Weihnachten in die Schweiz fährst?“
Verlier nicht die Nerven. Sie liebt dich und ist besorgt. Außerdem willst du doch nicht, dass sie sich unnötig aufregt. „Warum sollte Jay darüber informiert sein, was ich tue oder nicht tue?“, fragte Miriam bemüht ruhig.
„Weil er dein Mann ist, natürlich.“
„Nur dem Namen nach. Und du kannst es ebenso gut jetzt schon erfahren: Ich werde ihn bald um die Scheidung bitten.“ Miriam hatte es nur deshalb nicht längst gemacht, weil sie sich nicht dem Wirbel aussetzen wollte, der sich daraus ergeben würde. Es war einfacher gewesen, so zu tun, als würde Jay nicht existieren. In dieser Zeit hatte sie ihre Wunden geleckt und versucht, ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Was ihr inzwischen gelungen war. Mir geht es viel besser, versicherte sie sich. Eigentlich lief sogar alles wieder ganz normal.
„Dann bist du also weiter fest entschlossen, ihm nicht zu glauben?“
Wie oft hatten sie schon darüber gesprochen, seit sie ihr schönes eheliches Heim verlassen hatte und in das Einzimmerapartment gezogen war? Zu oft. „Dieses Gespräch führt zu nichts, und ich komme zu spät zu einer Verabredung. Ich rufe dich am Wochenende an, ja?“
Miriam schaltete ihr Handy aus. Das würde ihrer Mutter natürlich nicht gefallen, die sich als Märtyrerin in dieser Situation sah: gestraft mit der undankbarsten und dickköpfigsten Tochter der Welt. Bestimmt beklagte sie sich bei ihrem armen Stiefvater über sie.
Niemals würde Miriam verstehen, wie ihre Mutter Jay nach dem, was er getan hatte, noch immer für das Nonplusultra halten konnte. Andererseits waren die meisten Frauen Wachs in seinen Händen. Wie sie es gewesen war. Früher einmal.
Mit zusammengepressten Lippen nahm Miriam ihre Schlüssel und ging nach einem schnellen Blick durch das helle und