1. KAPITEL
Rachel Charles hielt sich den paillettenbesetzten Stoff vor den Körper und seufzte, als sie ihr Spiegelbild in der Umkleidekabine betrachtete. Falls es ihr gelang, sich trotz ihrer weiblichen Rundungen in dieses Kleid zu zwängen, würde sie darin wie eine glitzernde Discokugel aussehen. Das war nicht unbedingt der Look, den sie auf der Weihnachtsfeier des Kaufhauses Hartbury & Sons verkörpern wollte – besonders nicht als Stieftochter von Mrs. Hartbury.
Söhne gab es in dem traditionsreichen Familienunternehmen längst keine mehr, sondern nur Rachels Stiefmutter Hannah und ihre beiden Stiefschwestern Gretchen und Maisie. Und natürlich war da noch Rachels Vater, der seit seiner Heirat mit Hannah ein unverzichtbarer Teil der Familie Hartbury geworden war.
Im Gegensatz zu ihr.
Ärgerlich warf sie das Paillettenkleid auf einen Stuhl vor ihrer Kabine. Es war kurz vor Ladenschluss, daher musste sie sich keine Sorgen machen, dass noch irgendwelche Kunden kommen würden.
Was allerdings nicht hieß, dass sie keine Zuschauer hatte.
„Was hat dir an dem nicht gefallen?“, fragte Maisie, die entspannt auf der Chaiselongue neben dem bodenlangen Spiegel lag. „Ich finde, es sieht sehr festlich aus.“
Rachel hatte erst als Teenager Erfahrungen mit Geschwistern sammeln können, nachdem ihr verwitweter Vater wieder geheiratet hatte. Dass ihre jüngeren Schwestern ein gewisses Mitspracherecht verlangten, wenn es um Rachels Garderobe ging, hatte sie schnell begriffen.
Wahrscheinlich spekulierte Maisie gerade darauf, dass Rachel das Paillettenkleid kaufte, dann aber nicht den Mut haben würde, es anzuziehen. Wodurch Maisie mal wieder kostenlos in den Genuss eines neuen Kleides käme …
„Ich denke, das ist mehr dein Stil, Maisie“, erwiderte Rachel trocken und griff nach dem nächsten Kleid. „Du würdest bestimmt toll darin aussehen.“
Wie hatten ihre Schwestern sie nur dazu bringen können, sich auf diesen Shoppinghorror einzulassen? Als ihre Stiefmutter sie gefragt hatte, was sie zu der Feier anziehen würde, hatte sie ihr geantwortet, dass sie höchstwahrscheinlich dasselbe schwarze Kleid wie jedes Jahr tragen würde. Doch kaum hatte Rachel ihre heutige Schicht beendet, waren auch schon ihre Schwestern mit Massen von Kleidern aus der Damenabteilung aufgetaucht und hatten sie begeistert angestrahlt.
Sie hätte gern geglaubt, dass es eine nette schwesterliche Geste wäre. Jedenfalls hätte sie es bis zum letzten Sommer geglaubt. Aber jetzt nicht mehr.
Inzwischen wusste sie ohne jeden Zweifel, was ihre Stiefschwestern von ihr dachten – und das verdankte sie Tobias. Wenigstens etwas, wofür sie sich bei ihrem Ex bedanken konnte.
Nur noch ein paar Wochen, rief sie sich ins Gedächtnis, während sie den Vorhang der Umkleidekabine wieder zuzog. Sobald die nächsten Testergebnisse ihres Vaters vorlagen und er sich mit dem Arzt beraten hatte, konnte sie handeln. Sie war fest entschlossen, den nächsten Schritt zu tun und aus dem Haus der Familie Hartbury auszuziehen.
Nachdem sie die Uni abgeschlossen hatte, hatte es Sinn gemacht, wieder nach Hause zurückzukehren, schließlich war das Hartbury Haus ein vierstöckiges Stadthaus mitten in London. Es gab hier mehr als genug Platz für fünf Leute und war sehr viel besser als alles, was Rachel sich hätte leisten können, selbst mit einem richtigen Job.
Das war nämlich das nächste Problem gewesen: Arbeit zu finden. Mit ihrem Abschluss aus Oxford hätten ihr eigentlich etliche Türen offen stehen müssen, doch bei Bewerbungsgesprächen war Rachel eine ausgesprochene Niete. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kommilitonen war ihr Selbstbewusstsein nicht so ausgeprägt, dass sie glaubte, alles tun zu können. In ihrem Fall war es genau umgekehrt!
Als Hannah daher vorgeschlagen hatte, dass sie im Familienbetrieb arbeiten sollte, nur für eine Weile, bis sie einen passenderen Job fand, war ihr das wie ein logischer Schritt vorgekommen. Sie hatte angefangen, im Verkauf auszuhelfen, und nach und nach Erfahrungen in sämtlichen Bereichen gesammelt. Und jetzt, sieben Jahre später, arbeitete sie immer noch bei Hartbury’s …
Doch schließlich konnte sie nur einen Schritt nach dem anderen tun, und jetzt war erst einmal wichtig, dass ihr Vater wieder völlig gesund wurde. Denn als er vor ein paar Monaten von einem Tag auf den anderen ins Krankenhaus gekommen war, hatten alle einen Riesenschreck