Erster Teil
München, zwei Tage zuvor – 8. Juni
„Papa, ich warte schon eine Woche länger als ausgemacht auf deine läppischen dreihundertfünfzig Euro! Mein Vermieter hier in Berlin hält schon nach einer Brücke für mich Ausschau“, meldete sich seine Tochter über ihr Handy.
„Ich bin gestern eh auf der Bank gewesen“, log Tscharly beinahe mechanisch. Er kämpfte aber auch gegen sein schlechtes Gewissen wegen der Un-Wahrheit an und nahm sich vor, dafür bei Gelegenheit wieder einmal eine gute Tat zu vollbringen. Vielleicht sollte er einem Obdachlosen ein paar Brezen mit Weißwürsten und ein Bier in einem der schicken Lokale in der Münchner Innenstadt spendieren. Am besten vor der Diskothek P1, damit auch die Reichen und Schönen Zeuge seines Samaritertums wurden.
„Das sagst du immer“, durchschaute Milla ihn. „Ich weiß genau, dass du es wieder vergessen hast. Du wirst schusslig und alt.“
„Na gut, ich habe es wirklich vergessen. Du kennst mich ja lange genug. Aber wenn ich an einer Sache dran bin, dann vergesse ich alles andere. Du kriegst spätestens morgen dein Geld. Damit dein Vermieter dich nicht auf die Straße setzen muss, der arme Kerl! Mir kommen gleich die Tränen.“
Tscharly betrachtete die Zahnbürste in seiner linken Hand. Er hatte gerade die Zahncreme aufgetragen, als das Läuten des Handys ihn in seiner Morgentoilette unterbrach.Auf seine Zähne muss man immer aufpassen! Eine Weisheit, die bereits Julia Roberts als Prostituierte in Pretty Woman gepredigt hatte. In der Szene hatte sie auf unterhaltsame Weise Werbung für Zahnseide gemacht. Tscharly hatte den Film ein halbes Dutzend Mal gesehen, 1990. Was auch immer ihn dazu bewogen hatte, eine Liebesromanze im Kino anzuschauen, hätte er sich selbst nicht erklären können. Damals war er längst von Sara geschieden gewesen. Und ihre Ehe schien ihm wie eine Erinnerung an eine Erinnerung …
Milla holte ihn eiskalt in die Realität zurück.
„Am Ende muss ich noch bei Mama einziehen, damit ich mir das Wohnen während des Studiums leisten kann.“
Er lachte. „Köln soll ja auch sehr schön sein. Und die Kölner Philharmonie ist viel besser als ihr Ruf. Für eine Musikstudentin ist Köln zweifellos auch nicht gerade eine schlechte Stadt.“
„Das sagst gerade du.“
„Was?“
„Du hast es ja selbst gerade mal fünf Jahre mit Mama ausgehalten, bevor du mich mit ihr alleine gelassen hast. Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man die eigene Mutter nach der Schule völlig betrunken in ihrem Bett vorfindet und du keine Ahnung hast, wie du deine Hausaufgaben machen sollst?!“
Da war er wieder!Der alte Konflikt!
„Milla, es tut mir heute noch leid.“
„Davon kann ich leider meine Miete nicht bezahlen.“
„Deine Mutter und ich haben uns nur noch angeschrien. Es gibt viele, die trotz Ehedrama zusammenbleiben, weil sie glauben, dass sie damit ihren Kindern was Gutes tun. Und vielleicht wäre gerade das der richtige Weg gewesen. Ich wünschte, dass es anders gekommen wäre …“
„Du könntest dein schlechtes Gewissen ja mal wieder mit einer guten Tat ruhigstellen“, überrumpelte sie ihn.
„Ich …“
„Ich versuche seit Tagen mit Mama zu telefonieren. Aber sie geht einfach nicht an ihr Telefon. Mit ihrer Wohnungsnachbarin habe ich schon telefoniert. Mama ist zu Hause und sie verlässt auch manchmal ihre Wohnung. Aber sie geht mal wieder nicht an ihr Handy. Vielleicht will sie mich wieder einmal dafür bestrafen, dass ich mit sechzehn von daheim ausgezogen bin. Wäre ja nicht das erste Mal. Nur hab ich diesmal ein flaues Gefühl. Vielleicht hebt sie ja ab, wenn sie deine Nummer sieht.“
„Vielleicht“, murmelte er. „Vielleicht will sie ausgerechnet mich sprechen.“Was ich stark bezweifle, fügte er in Gedanken hinzu.
„Danke, du bist der beste Papa der Welt.“
Seine Freude über ihr Kompliment hielt sich in Grenzen. „Na sag schon, was du dir diesmal wünschst, meine geliebte Tochter und Prinzessin.“
„Ich hab dir doch neulich von dem Israel-Trip erzählt“, begann Milla. „Für achthundert Euro. Eine ganze Woche Sightseeing im Heiligen Land. Für mich und für Thorsten. Wäre das nicht ein schönes Geburtstagsgeschenk?“
„Mmh, ich verstehe ja, dass junge Liebe am liebsten gemeinsam auf Reisen geht. Aber könnten zur Abwechslung nicht auch einmal seine Eltern für seine Reisekosten aufkommen?“
„Ach komm, Papa, sei kein Spielverderber.“
Irgendwie gefiel ihm ihre Idee, Jerusalem und die heiligen Stätten anzusehen – und dazu die Golanhöhen und das Nachtleben in einem der angesagten Clubs in Haifa. Die Israelis besaßen eine Art zu feiern, als gäbe es kein Morgen. Während seiner Zeit im Nah