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Mit den Augen
eines Kindes
Betrachtet man mit den Augen eines unschuldigen Kindes unsere Welt, scheint man schnell hinter das Geheimnis eines glücklichen und erfüllten Lebens zu kommen. Halte dich an gewisse Spielregeln, bring gute Noten mit nach Hause, und arbeite jeden Tag so hart, wie es dir nur möglich ist, dann wird deine Mühe auch großzügig honoriert werden – mit noch mehr Regeln, noch mehr Schule und noch härterer Arbeit. Und hast du deine Schulzeit einige Jahre später erfolgreich hinter dich gebracht, erwartet dich das Genialste, was das Leben zu bieten hat: ein Arbeitsplatz, Geld und eine Zukunft, die aus einer nie enden wollenden Hetzjagd nach noch mehr besteht – bis man eines Tages alt und grau ist und tot umfällt. Das bezeichnet man gemeinhin dann als glückliches Leben.
»Also ehrlich, was für wüste Behauptungen! Wo hat dieser Rudolf nur diesen Zynismus her?«, denken sich jetzt sicher die einen. »Ja, und wo liegt das Problem? Das Leben ist doch genau so!«, die anderen. Zu welcher Gruppe gehörst du? Vielleicht weißt du es selbst nicht genau, weil du dir noch nie Gedanken darüber gemacht hast. Das macht nichts, philosophiere ruhig ein bisschen vor dich hin. Ich erzähle dir in der Zwischenzeit von einer Szene, die ich vor einigen Jahren in meinem Heimatdorf Schwarmstedt erlebt habe.
Es war ein wunderbarer Tag, die Sonne schien, und die Bio-Bäuerin baute gerade, wie jede Woche, ihren Obst-und-Gemüse-Stand am Dorfplatz auf. Ich trank wie immer bei Gino meinen Guten-Morgen-Espresso, als zwei Männer das Restaurant betraten und sich an einen der Tische neben mir setzten. Nach ihrem Auftreten und Kleidungsstil zu urteilen, zwei typische Vertreter, um die 40 und auf Durchreise. Sie bestellten Cappuccino und begannen, sich lautstark über die Auswirkungen der Finanzkrise auszulassen. Unaufhörlich schimpften sie auf einen unfähigen Staat, auf dümmliche und machtbesessene Politiker und auf einen Kapitalismus, der komplett aus den Fugen geraten sei. Am schlimmsten bekamen es die geldgierigen Investmentbanker ab, die sie ganz klar und ohne Zweifel als die einzig wahren Schuldigen des Dilemmas ausmachten. Sie mussten für alles herhalten: für ihren übellaunigen Chef, für ihre eigenen Zukunftsängste, für die schlechten Noten ihrer Kinder, sogar für ihre privaten Probleme. Ich hörte gespannt zu. Gab der eine Typ eben wirklich einer ganzen Branche die Schuld an seiner Ehekrise? Exakt! Und er meinte es tatsächlich ernst damit. Vor der Finanzkrise habe er nämlich nie Schwierigkeiten gehabt, nicht mit seiner Frau, nicht mit seinen Kindern, nicht mit seinem Job – sein Leben war perfekt gewesen! Jetzt jedoch führte ein Problem zum nächsten, und daran konnte natürlich nur einer schuld sein – der böse Banker. Diskussion beendet. Rechnung, bitte! Als sie kurze Zeit später wieder ihres Weges gingen, schaute ich ihnen noch einen Augenblick nach. Sie machten keinen glücklichen Eindruck auf mich.
Na? Konntest du dich in den Aussagen der beiden Männer ein wenig wiedererkennen? Vielleicht nicht Wort für Wort, und unter Umständen bist du auch von den Finanzkrisen verschont geblieben, aber hast du es dir nicht auch zur Gewohnheit gemacht, in schwierigen Situationen die Schuld öfter bei anderen zu suchen als bei dir selbst? Du kannst es ruhig zugeben, die meisten machen das so.
Aber lass uns noch kurz bei dem Beispiel des bösen Bankers bleiben. Die allgemeine öffentliche Meinung über Banker ist bekanntlich nicht gerade die beste, und als man vor Jahren in den Nachrichten Plastikpuppen, die wie Banker gekleidet waren, an Londoner Laternenmasten baumeln sah, hast du möglicherweise auch gedacht – und wenn auch nur für einen Moment: »Richtig so. Hängt sie auf, diese Gauner, die nur unser Geld stehlen!«
Okay, lies dir den letzten Satz noch einmal in Ruhe durch. Würdest du immer