Europa wird von einem Kontinent zu einer Kultur
Was sollte an diesem sympathischen Begriff von Europa problematisch sein? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, Äußerungen aus der Epoche der Aufklärung selbst in den Blick zu nehmen und nachzuvollziehen, wie erstmals kulturelle Europa-Begriffe populär wurden.
In Festreden unserer Zeit wird gern auf zwei Ahnherren eines kulturellen Europa-Begriffs Bezug genommen, nämlich auf Karl den Großen und Piccolomini, den späteren Papst Pius II. Es wird dann ausgeführt, dass Karl der Große in einem Gedicht des Jahres799 »Vater Europas« (»pater europae«) genannt wurde und der Humanistenpapst Pius II. um1458 den Begriff »Europäer« (»europaei«) erfunden habe. Pius II. verwendet den Ausdruck in seinen Aufrufen an die christlichen Fürsten, »den Türken« aus Europa und insbesondere aus Konstantinopel zu vertreiben, mit der Begründung, dass Europa die Heimat der christlichen Gemeinschaft sei.
Es stimmt zwar: Europa ist bei Karl und Pius II. eher ein kultureller als ein geographischer Raum, denn Karl der Große herrschte keinesfalls über den gesamten Kontinent, und viele Bewohnerinnen und Bewohner des Kontinents zu Lebzeiten Pius II. waren nicht Christen, sondern Muslime oder Juden. Doch die Karl- und Pius-Zitate sind Außenseiter in ihren Jahrhunderten, fanden kaum Nachahmer und sind also alles andere als repräsentativ. Sie eignen sich daher nicht für Festreden (ganz abgesehen davon, dass Herodot und Hippokrates im5. Jahrhundert v. Chr. auf Griechisch und dieMozarabische Chronik von754 auf Lateinisch auch schon von »Europäern« gesprochen hatten). Wenn also weder um799 noch um1458 ein kultureller Begriff von Europa populär wurde, wann dann?
Die historische Forschung ist noch nicht so weit, dass sie diese Frage mithilfe quantitativer Studien präzise beantworten könnte. Es zeichnet sich allerdings ab, dass ein kultureller Europa-Begriff erst in den Jahrzehnten um1700 in Mode kam, und zwar in französischen Texten. Das lässt sich sehr gut an den Pariser Instruktionen für die französischen B