Improvisieren im Jazz und darüber hinaus
Was ist Improvisation? So lautet die für unsere Überlegungen grundlegende Frage. Was läge näher, als mit ihr beim Jazz anzusetzen – und bei jemandem, der sich damit ohne jeden Zweifel auskennt, bei Keith Jarrett (*1945)? Viele würden ihn sicher gerne nach seinem Verständnis von Improvisation fragen, beispielsweise einige der mehr als vier Millionen, die in physischer Form das Werk besitzen, das zumindest quantitativ wie ein Olymp aus seinem umfangreichen Œuvre herausragt: »The Köln Concert«, der Mitschnitt aus der Kölner Oper vom24. Januar1975, in dem der Pianist eine gute Stunde lang improvisiert. Das Album avancierte zum bestverkauften Piano-Solo-Album aller Genres.
»Wie machst du das?«
»Was?«
»Aus dem Nichts heraus spielen.«
Das ist der Beginn eines kurzen Dialoges Ende der 1960er Jahre in einem amerikanischen Jazzclub. Bevor es einem Musiker gelingt, Jarrett in seine Band zu holen, richtet er diese Frage an ihn – er selbst ein Musiker, der zu diesem Zeitpunkt schon über eine zwei Jahrzehnte umfassende und bedeutende Improvisationspraxis verfügt: Miles Davis (1926–1991). Miles Davis also fragt Keith Jarrett. Und der sagt: »Ich mach’s einfach!«
Viele Jahre später, als er sich selbst erneut diese Frage vorlegt, weiß Jarrett noch immer keine befriedigende Antwort zu geben: »Ich habe keine Ahnung, wie der ›spontane Komponist‹ sein Material erzeugt oder wie der ›freie Improvisator‹ frei bleibt.«5
So oder ähnlich beschreibt sich die Jazzszene selbst, indem sie ihr oft genanntes, auffälligstes Kennzeichen feiert: die spontane Erfindung aus dem Moment heraus, ohne erkennbare Vorbereitung, also die Improvisation. Und es bedürfte vermutlich keines großen Aufwandes, um diese Selbsteinschätzung auch extern, im Rahmen einer repräsentativen Umfrage zu bestätigen:Der Ort der Improvisation ist der Jazz. Selbst wer die Musik nicht mag, wird sich dieser Zuschreibung nicht verweigern (vielleicht ist das Improvisieren sogar der Grund für die Abneigung).
Was aber macht Improvisation im Jazz aus? In der Jazzwelt finden wir Stimmen, die eine Musik schon dann für ›Jazz‹ halten, wenn sie wissen, dass sie improvisiert ist. Sie überhören, dass andere Parameter, zum Beispiel die rhythmische Eigenschaft ›swing‹, in weitaus höherem Maße als Alleinstellungsmerkmal taugen; und sie übergehen große Teile seiner Geschichte, nämlich die Zeit vor dem Modern Jazz bzw. vor dem Beginn des Bebop in den frühen 1940er Jahren. Davor, im New Orleans Jazz, wurde wenig improvisiert, und auch für die Ära des Swing etwa in den Big Bands von Paul Whiteman (1890–1967), Tommy Dorsey (1905–1956) und Benny Goodman (1909–1986) hatte das Improvisieren bei weitem nicht die Relevanz wie in späteren Jazzstilen.
Der Musikwissenschaftler Björn Heile analysierte in dieser Hinsicht Videos von Tourneen des Duke Ellington Orchestra in den Jahren1969 und1971; er entdeckt darin w