: Pier Paolo Pasolini
: Amado mio
: Verlag Klaus Wagenbach
: 9783803143310
: 1
: CHF 7.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 96
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Amado mio' zeichnet das zarte Bild einer ungehörigen Sommerliebe: beim Dorftanz, beim Baden im hitzeflimmernden Fluss, beim Toben auf dem Sandstrand, im Kreis der Jugendlichen. Desiderio entdeckt, dass er lieber mit dem Jungen Chini tanzt als mit Mädchen, und er erlebt die vielleicht schönste Nacht seines Lebens. Ein Roman voller Ausgelassenheit, Eifersucht, Herzklopfen und Zärtlichkeit - durchwoben von der Erinnerung Pasolinis an seine Jugend im Friaul.

Pier Paolo Pasolini, geboren 1922 in Bologna, war Schriftsteller, Filmregisseur und Kritiker. Er lebte in Casarsa (Friaul), verlor wegen 'obszöner Handlungen in der Öffentlichkeit' seine Stelle als Lehrer und zog 1950 nach Rom. Er wurde 1975 ermordet.

Erstes Kapitel


… das blaue Hemd und das wunderbare
Band über der Brust.

J. R. Jiménez

Das schönste Hemd von ganz Marzins erschien gegen Abend. Es hatte sicher schon sechs geschlagen, und der Nachmittagstanz war noch bescheiden, fast familiär. Man sah wenige Leute rundherum, und wenige Leute auf der Tanzfläche; die auswärtigen Jugendlichen erforschten die Gegend, an der Umzäunung der Tanzfläche entlang; dabei riefen sie sich von einer Seite des Wäldchens zur anderen zu und wagten gelegentlich auch einen abenteuerlichen Abstecher auf den »Rost« hoch über dem Fluss, der hinter Büschen und Weinbergen verborgen war.

Das »Hemd« erschien, zwischen zwei auf die Tanzfläche herabhängenden Erlen, auf einer Zementwalze, einer von der Sorte, wie man sie zum Ebnen der Bocciabahn braucht. Desiderio tanzte um die Zeit gerade mit einem Mädchen aus San Vito, die einen kurzen blauen Umhang mit einem Rosensträußchen auf der Schulter trug und von den Jungen aus Marzins mit stiller und besonderer Bewunderung beäugt wurde, als handle es sich um eine »Dame«. Desiderio dagegen kümmerte sich gar nicht um sie, und wenn er überhaupt etwas für sie empfand, war es höchstens ein Stich ins Herz wegen ihres kurzen Umhangs und ihres Rosensträußchens; er warf vielmehr unruhig forschende Blicke über die Umzäunung der Tanzfläche, hinter der manche »Hemden«, die ihm am Nachmittag aufgefallen waren, in der Menge auftauchten und wieder verschwanden. Dieses Hemd auf der Walze hätte im ersten Augenblick als eine nur unwichtige Variante erscheinen können; gleich daneben sah man nämlich ein ebensolches, grau mit einem roten Streifen über der Brust, und dessen Besitzer war ein Rothaariger mit – wie Desiderio sogleich definierte – dem jugendlichen Gesicht »einer angelsächsischen Kokotte, die in einem gewissen Alter, aber noch wundervoll frisch war«; und vielleicht wegen der schreienden Farbe seiner Haare war er es, der beim ersten langsamen Vorbeitanzen Desiderios Blick einfing.

Chini, der rothaarige Junge, wurde mit jenem ersten Blick sofort eingeordnet; gleichwohl … trotz Desiderios abgebrühter Sachkenntnis umgab ihn weiterhin eine ziemlich dichte Barriere anfänglichen Geheimnisses, die vor allem väterlichen Ursprungs war (Alkoholismus? teilweise Impotenz?) und dem Jungen ein korruptes Aussehen verlieh, das Aussehen einer alten, wie durch ein Wunder verjüngten Kupplerin, die ein wenig vom Widerschein des roten Haarschopfes in der prallen Sonne geblendet ist. Welche inneren Reichtümer dem Jüngling mit jenem geringfügigen Geheimnis zu Gebote stehen mochten (Alkoholismus, angelsächsische Verderbtheit, organische Schwäche, Blüte der Jahre plus wiederverkörperte frühere Blüte de