: O. Henry
: O. Henry - Die besten Geschichten Vom Altmeister der Short Story und Autor der weltbekannten Weihnachtsgeschichte 'Das Geschenk der Weisen'. Neu übersetzt von Alexandra Berlina
: Anaconda Verlag
: 9783641291624
: 1
: CHF 5.30
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Geschichten von O. Henry (1862-1910) kommen immer rasch auf den Punkt: eine clever entwickelte Szene aus dem Alltagsleben mit verblüffender Pointe. Zehn Minuten Lesezeit, lang nachhallende Wirkung. Der Meister der Short Story beobachtete die ganz normalen Menschen in ihrem meist großstädtischen Umfeld und brachte eine kleine Begebenheit unversehens zum Funkeln. Diese Auswahl seiner besten Erzählungen in der neuen Übersetzung von Alexandra Berlina, die unter anderem die berühmte Weihnachtsgeschichte 'Das Geschenk der Weisen' enthält, bietet Leserinnen und Lesern hierzulande endlich wieder einen Zugang zum Werk des amerikanischen Erfolgsautors. Eine echte Entdeckung!

William Sydney Porter, Künstlername O. Henry, wurde 1862 in North Carolina geboren. Erst nach einer mehrjährigen Haftstrafe (wegen Unterschlagung) trat er 1904 schriftstellerisch in Erscheinung. Bis zu seinem Tod im Jahr 1910 schrieb er Hunderte Short Stories und wurde prägend für die amerikanische Kurzgeschichte.

Die Gaben der Weisen


Ein Dollar siebenundachtzig. Das war’s. Davon sechzig einzelne Cents – erspart und errettet durch unnachgiebiges Feilschen mit dem Metzger, dem Gemüsehändler und dem Krämer, bis Della vor jedermanns stillen, doch spürbaren Missbilligung solcher Knauserei die Wangen brannten. Dreimal zählte sie nach. Ein Dollar siebenundachtzig. Und morgen war Weihnachten.

Was konnte man da schon anfangen, als sich auf das abgewetzte kleine Sofa zu werfen und loszuheulen? Also tat Della genau das. Woraus wir übrigens auch den philosophischen Schluss ziehen können, dass das Leben aus Schluchzen, Schniefen und Schmunzeln besteht, wobei Schniefen dominiert.

Während die Dame des Hauses nun also vom Ersten zum Zweiten übergeht, können wir uns umschauen. Eine möblierte Wohnung, für 8 Dollar pro Woche, die zwar nicht jeder Beschreibung spottete, sich aber zumindest ins Fäustchen lachte bei jedem Versuch, ihr erzählerisch gerecht zu werden.

In der Eingangshalle unten fand sich ein Brief­kasten, in den kein Brief passen wollte, und ein elektrischer Klingelknopf, dem kein sterblicher Finger jemals einen Ton entlocken konnte. Zu diesem Knopf gehörte auch ein Schild, und auf dem Schild prangte der Name »Mr James Dillingham Young«.

»Dillingham« hatte sich in früheren, gedeihlicheren Zeiten übermütig dazugesellt, als Mr Young noch 30 Dollar pro Woche verdiente. Nun war das Einkommen auf 20 Dollar geschrumpft, und der zweite Vorname wirkte verschämt und verschwommen, als ob er ernstlich erwöge, sich zu einem bescheidenen »D.« zusammen­zuziehen. Zu Hause wurde Mr James ­Dillingham Young ohnehin einfach nur Jim genannt, und zwar von Mrs James Dillingham Young, die Sie bereits als Della kennen, und die ihrem Mann jeden Tag freudig um den Hals fiel, wenn er in die Wohnung kam. Und das ist auch alles gut so.

Della hatte inzwischen zu Ende geweint und frischte sich mit der Puderquaste die Wangen auf. Dann ging sie zum Fenster und blickte trübe auf eine graue Katze, die in dem grauen Hof über einen grauen Zaun spazierte. Morgen war Weihnachten, und sie hatte nur 1,87 $, um Jim ein Geschenk zu kaufen. Monat für Monat hatte sie jeden Cent gespart, und dies war das Ergebnis. Mit zwanzig Dollar die Woche ist eben nicht viel zu machen. Die Ausgaben waren größer als gedacht. Das sind sie ja immer. Nur 1,87 $, um Jim etwas zu schenken. Ihrem Jim. So viele glückliche Stunden hatte sie damit zugebracht, etwas besonders Schönes für ihn zu erträumen! Etwas Feines und Rares und Edles – etwas, was seiner zumindest beinahe würdig wäre.

Zwischen den Fenstern hing ein Pfeilerspiegel. Vielleicht haben Sie mal einen Pfeilerspiegel in einer 8-Dollar-Wohnung gesehen. Eine sehr schmale und sehr wendige Person kann darin ein relativ stimmiges Bild ihres Äußeren erhaschen, wenn sie die aufeinanderfolgenden vertikalen Ausschnitte rasch genug betrachtet. Die schlanke Della hatte diese Kunst gemeistert.

Auf einmal wirbelte sie vom Fenster weg und stellte sich vor den Spiegel. Ihre Augen leuchteten, aus ihrem Gesicht aber war alle Farbe gewichen. Rasch löste sie ihr Haar und ließ es zu seiner vollen Länge herabwallen.

Nun hatten die James Dillingham Youngs zwei Besitztümer, auf die sie mächtig stolz waren. Das eine war Jims goldene Taschenuhr, die seinem Vater und davor sein