IM HERZEN DER FINSTERNIS: DAS MÄDCHEN, DAS IN AL-BAGHDADIS HÄNDEN WAR
»Wer flieht, dem droht der Tod!« Das war uns Mädchen klar, doch wir ahnten nicht, dass uns noch viel Schlimmeres bevorstand, nachdem die IS-Wachen uns zu viert im Garten geschnappt hatten. Unser Besitzer hat uns aber nicht, wie erwartet, mit eigenen Händen erschlagen. Nein, er hat uns zur Strafe in einem anderen Haus mit seinen Emiren eingesperrt. Wenn man sich mit 14 Jahren so alt fühlt, dass es einem vorkommt, als könnte man den nächsten Morgen nicht mehr überstehen, fürchtet man den Tod nicht mehr. Wir sind ein zweites Mal davongelaufen. Und diesmal sind wir unseren Folterknechten entkommen! Mir war klar, dass wir Glück gehabt haben. Wie groß unser Glück war, ist mir jedoch erst viel später bewusst geworden.
Im November 2014 nahm mich mein Onkel im kurdischen Teil des Irak in seiner Familie auf. Gemeinsam verfolgten wir nach dem Abendessen die Nachrichten im Fernsehen. Als hätte ich einen Stromschlag erhalten, zuckte ich zurück und stammelte, mit dem Finger auf den Bildschirm deutend: »Bei … bei … bei diesem Mann war ich auch!« Damals war er anders gekleidet gewesen, trug nicht dieses schwarze lange Gewand und den schwarzen Turban. Unverkennbar jedoch waren das breite Gesicht wie das eines Bauern und der schwarze Vollbart mit weißen Strähnen. Mein Onkel wurde kreidebleich.
Plötzlich haben sich die Ereignisse nur so überschlagen. Der US-Geheimdienst wollte mit mir sprechen. Und schon kurze Zeit später hat man mich außer Landes nach Deutschland geschafft. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es Abu Bakr al-Baghdadi persönlich gewesen war, der mich als sein Eigentum betrachtet hatte. Zweieinhalb Monate lang war ich in Händen des selbst ernannten Kalifen, des Anführers der Terrormiliz Islamischer Staat, des meistgesuchten Terroristen der Welt. Ich wusste nicht, dass die USA auf ihn ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt hatte. Bis dahin war mir auch nicht klar gewesen, dass die Führer des IS die schönsten Mädchen für sich selbst wählen.
Seitdem ich in ihrer Gefangenschaft war, fühle ich mich hässlich. Ich bin Jesidin. Mein Haar ist lang und schwarz gelockt. Ich bin dünn. Meine Augen sind groß und schwarz wie Kohle. Die Schatten darunter sind tief. Meine Haut ist weiß wie mein T-Shirt. Ich bin in einer aufgeschlossenen und modernen Familie aufgewachsen. Wie hätte ich mir da ausmalen sollen, dass im Irak von einem Tag auf den anderen wieder das Mittelalter herrscht? Mit Sklaverei und Menschen, die wie Fliegen auf der Straße sterben. Bis heute konnte mir niemand sagen, ob meine Eltern und Geschwister noch leben. Als ich in der Pubertät war, ist mein altes Leben zu Ende gewesen.
Das alles passierte so überraschend, dass ich es immer noch nicht ganz verstanden habe. Deshalb erzähle ich im Gespräch oft in der Gegenwart und sage: »Sindjar ist eine Stadt, in der etwa 30 000 Menschen leben.« Dabei gibt es die Stadt und die Einwohner nicht mehr. In Sindjar sind nur Ruinen, unterirdische Tunnel und überall Minen, sogar in Kopfkissen und unter Waschbecken, übrig geblieben. So viele Menschen sind tot. Wo sind meine vier älteren Brüder? Sie sind 16, 17, 20 und 21 Jahre alt. Wo ist meine zwölfjährige Schwester Leyla*? Ich habe so schreckliche Angst um sie. Schließlich habe ich am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, Dienerin von IS-Terroristen sein zu müssen. Ich habe meine kleine Schwester so geliebt und vermisse sie so sehr.
Bis zum 3. August 2014, dem Tag des Überfalls, lebte unsere Familie gut. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter Hausfrau. Ich besuchte die 10. Klasse, hatte einigermaßen gute Noten und viele Freunde. In der Schule unterrichteten uns sowohl arabische, kurdische als auch jesidische Lehrer, die eigentlich alle nett waren. Ich beherrsche Arabisch, Kurdisch sowie ein bisschen Englisch. Richtige Hobbys hatte ich nicht, aber ich habe gerne gelesen und oft kurdische Musik gehört.
In den Schulferien ist unsere Familie immer aufs Land zu unseren Verwandten gefahren. Diese Ausflüge haben mir großen Spaß gemacht. Besonders schön fand ich die Abende im Sommer, wenn es langsam dunkel und kühler wurde. Dann saßen alle bis in die frühen Morgenstunden zusammen. Die Alten erzählten ihre Geschichten, wir Mädchen hörten gespannt zu oder haben uns zurückgezogen, gequatscht und gespielt.
Meine Mutter hat uns Kindern das Gefühl gegeben, dass wir das größte Geschenk auf der Welt seien. Vater, der als Lehrer arbeitet, hat dagegen öfter mal den Zeigefinger mahnend erhoben: »Ihr müsst viel lernen, damit ihr später einen guten Beruf erlernt und von niemandem abhängig werdet.« Meine beiden älteren Brüder wollten aber kein Abitur machen, sie haben lieber gleich ihr eigenes Geld verdient. Vater war enttäuscht über sie, denn es war sein großer Wunsch gewesen, dass alle seine Kinder eines Tages studieren würden. Deswegen hatte ich mir fest vorgenommen, nach dem Abitur gleich an die Universität zu gehen. Vielleicht, um selbst einmal Lehrerin zu werden? Aber das war noch so weit weg. Vie