: Joachim Süss
: Die entschlossene Generation Kriegsenkel verändern Deutschland
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958901483
: 1
: CHF 13,30
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 247
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es ist die Generation der 40- bis 65-Jährigen, es sind die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge, die an den Schalthebeln der Macht in Politik, Wirtschaft und Kultur sitzen. Jahrzehntelang standen sie im Schatten ihrer Vorgänger, der 68er, und im Gegensatz zu diesen gelang es ihnen nur schwer, ein Gefühl für ihre gesellschaftliche Rolle und ihre Aufgabe zu entwickeln. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, denn es waren die Babyboomer, die der Vermutung nachgingen, die Erfahrungen ihrer Eltern während der NS-Zeit und im Krieg könnten etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Ab der Jahrtausendwende begannen sie, diesen vergessenen Zusammenhang zu untersuchen. Als 'Generation Kriegsenkel' drücken sie dem Deutschland von heute ihren unverwechselbaren Stempel auf. Doch was treibt sie an? Welche Ziele verfolgen sie? Wie prägen und verändern sie unser Land?

Joachim Süss, Jahrgang 1961, Studium der Theologie und Religionsgeschichte, 1994 Promotion. Er unterrichtete viele Jahre Religionsgeschichte an den Universitäten Marburg und Jena, arbeitete bis 2007 als Referent im Thüringer Kultusministerium und ist heute als Autor, Herausgeber und Seminarleiter tätig. Er hat zahlreiche Bücher und Beiträge veröffentlicht, u.a. den Erfolgstitel Nebelkinder - Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte.

DIE GESCHICHTE UNTER UNSEREN FÜSSEN


Auf der Insel Usedom, am nordöstlichsten Zipfel Deutschlands, erhebt sich ein Hügel, der Golm. Inmitten der ansonsten weitgehend flachen Küstenlandschaft der mecklenburg-vorpommerschen Ostseeküste ist der Golm schon eine Besonderheit. Mit seinen knapp 70 m Höhe stellt er die höchste Erhebung auf Usedom dar und bietet ein einzigartiges Panorama über diesen Abschnitt des Küstenlandes. Für Tausende Besucher, Anwohner wie Urlauber, ist er Jahr für Jahr ein beliebtes Ausflugsziel, aber der Golm ist kein gewöhnlicher Berg.

Am 12. März 1945 wurde die nahe gelegene Hafenstadt Swinemünde von einem verheerenden Luftangriff getroffen. Swinemünde war Stützpunkt der Kriegsmarine und 1945 Auffanglager für etwa 100 000 Flüchtlinge, die aus Ostpreußen vor der Roten Armee geflohen waren und sich auf Schiffen im Hafen, in Notquartieren und im übrigen Stadtgebiet drängten. Etwa 20000 Menschen, überwiegend Flüchtlinge, aber auch Einwohner der Stadt Swinemünde kamen bei diesem Angriff ums Leben. Fast alle wurden in Massengräbern auf dem Golm bestattet, der schon zuvor als Soldatenfriedhof für Heer und Marine Verwendung gefunden hatte.

Der Golm ist heute eine der größten Kriegsgräber- und Kriegsopferstätten in Deutschland. Bis 1945 gehörte er zur Hafenstadt Swinemünde und war schon damals ein gern besuchtes Naherholungsgebiet. Heute liegt er auf dem Gebiet der Gemeinde Garz, unmittelbar an der Grenze zu Polen. Die Toten aber, sie blicken weiterhin auf ihre alte Heimatstadt, die immer noch zu ihren Füßen, nun aber in einem anderen Land liegt und fern erscheint. Swinemünde gehört heute zu Polen und heißt Świnoujście.

Der Luftangriff auf diese Hafenstadt war jahrzehntelang aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Die Grenzverschiebungen nach 1945 und die politischen Verhältnisse im Osten Deutschlands ließen in Mittel- und Osteuropa keine adäquate Gedenkkultur entstehen. Dies änderte sich erst mit der Wende 1989/90. Mittlerweile findet am Jahrestag der Angriffe auf Swinemünde, am 12. März, regelmäßig eine Gedenkveranstaltung auf dem Golm statt.

Nicht allen, vor allem wahrscheinlich vielen Urlaubern nicht, ist die besondere Geschichte dieses Ortes vertraut. Im Grunde befinden sie sich auf einem riesigen Grabhügel, an dessen Flanken Menschen bestattet sind, die früher in der angrenzenden, heute polnischen Stadt lebten. Sie stehen auf einem Boden voller Geschichte und Geschichten, auf einem gewaltigen Gräberfeld, dessen Tote nur zu einem kleineren Teil namentlich bekannt sind.

So steht der Golm am nordöstlichsten Zipfel Deutschlands paradigmatisch für die Situation in diesem Land. Die Menschen in ihm bewegen sich, wo auch immer sie gehen oder stehen, über den Abgründen der Zeit. Nur ein klein wenig unter der Krume, die an der Oberfläche den Wechsel der Jahreszeiten und damit so etwas wie Beständigkeit, Verlässlichkeit, aber auch Normalität bedeutet. Dort ist die Vergangenheit weiter präsent. Dort lebt die Geschichte unseres Landes weiter.

Dies ist nicht nur sinnbildlich gemeint, denn die Vergangenheit macht sich bemerkbar, führt uns ihre Gegenwärtigkeit in vielerlei Hinsicht beständig vor Augen, ganz materiell, aber auch in geistiger Hinsicht. In regelmäßigen Abständen müssen überall in Deutschland Innenstädte und Industrieanlagen geräumt werden, weil bei Bauarbeiten Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt worden sind und entschärft werden müssen. Auf den Schlachtfeldern dieses Krieges werden bis heute gefall