ERSTES KAPITEL
Der Aufbruch ins zweite Leben
»Alles braucht seine Zeit, auch das Begreifen, dass es irgendwann zu spät ist.«
»DAS ZWEITE LEBEN beginnt, wenn man begreift, dass man nur eines hat.« Dieser Satz ging meiner Freundin Emina durch den Kopf, als ihre Partnerin vor siebzehn Jahren in ihren Armen starb. Krebs. Ein Menschenleib, verstrahlt und vergiftet von den verzweifelten Versuchen, ihn weiter am Leben zu erhalten. Vergebens.
Heute sagt Emina, wer niemals einen Menschen so sehr lieben durfte, könne niemals begreifen, wie kostbar das Leben und die Liebe sind und was Dankbarkeit bedeutet.
Da gab es diesen einen Tag im gemeinsamen Leben der beiden, an dem sie aufgaben und nicht mehr weiterkämpften. Sie brachen die Behandlungen in der Klinik ab und schlossen sich in ihrem Londoner Apartment ein, verschanzten sich im Doppelbett und redeten nur noch von all den Dingen, die sie so gerne noch miteinander erleben wollten, jetzt aber nicht mehr miteinander erleben durften. Ganz triviale Dinge – die aber tatsächlich Möglichkeiten tiefster Erfüllung hätten sein können, kostbare Möglichkeiten, die sonst allzu oft als Selbstverständlichkeiten an uns vorüberziehen. Was kümmert den, der noch eine Ewigkeit vor sich wähnt, die Erfüllung, die es bedeutet, jetzt überhaupt am Leben sein zu dürfen?
Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, brachte es einmal trefflich auf den Punkt:
Wir leben, als würden wir nie sterben, und dann sterben wir, ohne wirklich gelebt zu haben.
Am Morgen nach der Beerdigung stand Emina in der Küche, der Tisch war gedeckt für zwei. Während für sie die Zeit stillstand und sie auf eine leere Tasse starrte, saßen sich in London in diesem Moment sicher Tausende Menschen schweigend an Frühstückstischen mit vollen Kaffeetassen gegenüber und hatten sich nichts zu erzählen.
Wenn ich heute mit Emina spreche, sitzt mir eine charismatische, selbstbewusste Frau gegenüber. Ein Leuchtturm an Zuversicht und Lebensfreude. Erst durch diese Erfahrung hatte sie begriffen, dass auch ihr Leben endlich ist und sie schon morgen keine Zeit mehr haben könnte, es auch zu leben. Und dass ein Leben ohne Gefühle und ohne wahre Liebe kein Leben ist, sondern eine sicher dramatische, aber recht theoretische Abhandlung.
Heute ist sie sich bewusst, dass sie immer die Wahl hat, sichfür etwas vollumfänglich zu entscheiden – und nicht nurgegen unzählige Dinge, die ihr nicht genügen könnten, vielleicht auch nur, weil sie anderen auch nicht genügen würden. Und das bedeutet eben auch, die Haltung und den Blickwinkel zu verändern, den eigenen Standpunkt auszuloten. Wir haben die Wahl, zu entscheiden, wem wir genügen wollen, uns selbst und den Menschen, die uns genauso lieben, wie wir sind, oder einer Masse, der alles gleichgültig ist, was nicht ihren hohen Erwartungen entspricht, die sie selbst kaum erfüllen kann.
Was kümmert den, der noch eine Ewigkeit vor sich wähnt, die Erfüllung, die es bedeutet, jetzt überhaupt am Leben sein zu dürfen?
Nichts konfrontiert uns stärker mit der Tatsache, dass alles vergänglich und deshalb so kostbar ist, als der Tod – oder eine schwere Lebenskrise, die auch eine Form von Tod darstellt, den Tod unserer Wünsche, Pläne und Ziele, die wir für unser Leben hatten. Wir wachen auf und fassen möglicherweise den Beschluss, ein neues Leben zu beginnen, damit wir keine weiteren Augenblicke mit Nichtigkeiten vergeuden. Um Gewissheit zu erhalten, was wir aus unserem alten Leben loslassen oder festhalten wollen, sollten wir es uns erst einmal vergegenwärtigen. Nur wenn wir die Vergangenheit durchleuchten, wird sie keine Schatten mehr in die Zukunft werfen. Und wo Licht in der Vergangenheit und in der Zukunft scheint, stolpern wir auch in der Gegenwart nicht mehr durch die Dunkelheit.
Was wir sehen, tut oft weh, doch gerade in diesem Schmerz – in der Enttäuschung und Verzweiflung – offenbart sich die Möglichkeit, alte, festgefahrene Denkmuster und Vorstellungen, die sich nicht bewährt haben und mit denen wir gegen die Wand gefahren sind, loszulassen und zu neuen Überzeugungen zu gelangen, die uns erst andere Wege eröffnen.
Der Mensch findet sich und seine Mitte nur, wenn er alle Seiten in sich erkennt und erfährt. Und nur dadurch wird die Mitte zur Fülle, und das Sein kann zur Erfüllung werden. Was wir meiden und was wir nicht sehen wollen, wiegt umso schwerer, je weiter wir uns davon entfernen und wegwünschen; gleich einem Hebel, der immer länger wird, bringt es uns doch ins Wanken und irgendwann ganz aus der Balance. Was wir unterdrücken und nicht sehen wollen, machen wir stärker. Was wir nicht beher