: Tilman Steiner
: Die Anschauung der Welt Die Vernunft der Schönheit und die unvernunft der Rationalität
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958900929
: 1
: CHF 7.90
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: Natur, Technik
: German
: 487
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Seit Menschengedenken suchen Naturwissenschaftler, Theologen, Künstler und Philosophen nach der 'Formel aller Formeln', die erklärt, wie die Welt entstanden ist und was sie im Größten und im Kleinsten zusammenhält. In Die Anschauung der Welt wagt Tilman Steiner ein fesselndes Gedankenexperiment an den Schnittstellen der Disziplinen und entwirft mit seiner Attraktivitätstheorie ein faszinierend neues Modell der Evolution. In seiner Betrachtung geht es ihm um einen Gegenentwurf zu unserem rationalen Weltbild und um ein neues Denken und Handeln, damit die Schönheit der Welt auch für die nachfolgenden Generationen erhalten bleibt. Immer tiefer dringen Physiker und Biologen, Astronomen und Atomforscher in die Geheimnisse des Universums ein, immer mehr Erkenntnisse führen zu einem immer detaillierteren Bild von der Entstehung unseres Planeten. Doch je mehr wir die Welt zu verstehen glauben, desto mehr neue Fragen tun sich auf, denen vor allem die Geistes- und Kulturwissenschaften nachspüren. Tilman Steiner wagt in seinem Buch eine Zusammenschau der Disziplinen und entwirft dabei ein faszinierend neues Modell zur Entstehung unserer Existenz. Er sieht die Antwort auf die großen Fragen der Evolution in vier einander bedingenden Grundprinzipien, ohne die diese nicht möglich gewesen wäre: Kreativität, Polarität, Attraktivität und Reflexion. In diesem Zusammenspiel erkennt Tilman Steiner die 'Vernunft der Schönheit'. Mit unserer Zivilisation kommt schließlich die Rationalität ins Spiel, die die Ausgewogenheit dieser Grundprinzipien zerstört und die Menschheit an den Scheideweg bringt, an dem sie heute steht. In diesem Buch geht es um einen ganzheitlichen Blick auf das Wunder der Evolution und darum, dem Leser die Schönheit, aber auch die Verletzbarkeit unseres Planeten nahezubringen.'

Tilman Steiner, Prof. Dr. phil. und Jurist, Hochschullehrer und Journalist, seit 2002 federführend für die Akkreditierung der B.A.- und M.A.-Studiengänge der Medien, des Journalismus und der Kommunikationswissenschaft an den deutschen Unis und FHs berufen, ist auch Vorsitzender des Verbandsgerichts des Bayerischen Journalistenverbandes. Er drehte mehrere Hundert Dokumentationen und Fernsehbeiträge, moderierte regelmäßig Magazine im Bereich Wissenschaft und Gesellschaft und war jahrzehntelang in leitender Funktion im Bayerischen Fernsehen und in der ARD tätig.

2. DER IMPULS, ODER: SCHÖNHEIT, WAS IST DAS?


Es war während einer Malphase auf Capri. Immer wieder kam ich an diesen Ort, zunächst zur Erholung nach dem Juraexamen, in eine kleine Casetta auf einer Felskante, 200 Meter senkrecht über der Brandung, mit Blick auf den Vesuv. Der kleine, weiß gekalkte, arabisch anmutende Kubus mit der Kuppel und der Zisterne obendrauf, hinter dem Johannisbrotbaum-Hain und dem Kakteenwald nicht leicht zu finden vor dem Abgrund, gehörte einer Urenkelin des Dichters Theodor Storm. Auch Sprache kennt die Dimension von Schönheit. Schönheit, was ist das? Die Novemberstürme zu spüren, das Tosen des Meeres zu hören und den Gewittern ausgesetzt zu sein – auch das sind Reize, in ihrer Dramatik schön.

Später führte mich das Malen und Filmemachen in die Casa Malaparte, einen majestätisch von der Südküste Capris übers glitzernde Meer strebenden Bau, den eine amerikanische Architekturzeitschrift einmal als »Rampe der Kreativität« bezeichnet hat. Mit seiner sich nach oben weitenden Freitreppe zum Flachdach, das der Schriftsteller und Freigeist Curzio Malaparte mit seinem Rennrad befuhr, steht das Objekt – irgendwo zwischen Bauhaus- und Pharaonenarchitektur – in der Einsamkeit der Felsen und der Pinien wie eine Sprungschanze hoch über dem von unten leuchtenden Blau, zur Sonne und nach Afrika ausgerichtet. Malaparte hatte diesen Traum einst für sich gebaut. In der großen Halle konnte er nicht nur durch weite, sprossenlose Fenster, sondern auch durch den Kamin und die Glasscheibe hinter der Feuerstelle direkt auf die hoch aufragenden Klippen der Faraglioni, eines Wahrzeichens der Insel, blicken. Gibt es eine Steigerung des Schönen?

Kunsttherapie war eines der Themen, die der Münchner Kunstprofessor Hans Daucher hier auf Capri anbieten konnte. Zwei Jahrzehnte lang fuhr er jedes Jahr für mehrere Sommerwochen mit seinen Studenten, vorwiegend weiblichen, und mit einigen die Kosten übernehmenden Gästen in dieses betörende Ambiente. Die Villa Malaparte gehörte damals einer Stiftung von Vasco Ronchi, dem Erforscher der Optik, also des Lichts und seiner Brechung. So kam es auch einmal zu einem kleinen, sehr intensiven Symposion zum Thema »Lux et lumen« über Licht und Sehen, und zwar zum neuronalen Zusammenspiel des Augenlichts mit dem Hirnforscher Wolf Singer, zur Emotionalität des Schauens mit dem klinischen Psychologen Dieter Vaitl, zum Bild-Gedächtnis mit dem Kreativgeist Mario Lazzeroni, mit dem Gastgeber Hans Daucher zu Bild und Abbild, mein Thema war Film und Fernsehen als Manipulation der Realität.

Als die Villa Malaparte für kunsthistorisch-literarische Archivarbeiten an eine Stiftung anderweitig langfristig vermietet wurde, gelang Hans Daucher mit seinem Lehrstuhl für Kunstdidaktik von der Uni München das Malen und Reflektieren schließlich weiter in der schlossartigen Villa Lysis, nach ihrem Erbauer auch »Villa Fersen« benannt. Über dem obersten Absatz der tempelartigen Freitreppe prangte in goldenen Lettern wie ein Fries die Inschrift: AMORI ET DOLORI SACRUM, »Der Liebe und dem Schmerz geweiht«. Hier lebte, liebte und litt sein Gestalter, ein junger Graf schwedisch-französischer Abstammung, bis zu seinem Freitod 1923 in der Grotte dieses steinernen Traums. Dieses Gebäude mit Blick auf den Vesuv und in den Golf von Amalfi liegt unterhalb der Villa Jovis, der mächtigen Sommerresidenz römischer Kaiser, und war als »Spukschloss« in der Folgezeit verfallen, bis sich die Gemeinde Capri zum Wiederaufbau entschieden hatte, um es für kulturelle Zwecke zu nutzen.

Unten an der Marina Piccola, abseits der Trubels auf einer Steinplatte liegend, meditierte ich eines Tages ins Meer, in die auf die Klippen aufschlagende Brandung und in die sinkende Spätnachmittagssonne, während meine Gedanken wieder und wieder um das Phänomen kreisten: Schönheit – was ist das? Woher kommt sie? Brauchen wir sie?

Da dämmerte in mir beim ungerichteten Schweifenlassen der Gedanken etwas Vielschichtiges über Werden und Vergehen, über Sein und Wahrnehmen. Vielleicht hatte auch etwas in den Tiefen meines Unterbewusstseins in den vielen Jahren als Wissenschaftsjournalist Form angenommen, hatte zu blinken begonnen im Gegenlicht am Mittelmeer und wollte gefischt werden. Ich empfand jedenfalls ein wohliges Heureka, ein »Ich hab’s«: Nachdenken über die Schönheit ist wie das gleißende und tanzende Licht in der Spiegelung des Wassers, ist Reflexion. Schönheit ist anziehend, ist harmonisierend, ist ein Gleichklang eigener Empfindung mit dem Klang des Gesehenen oder Empfundenen.

Schönheit ist das Dazwischen, sie ist Kommunikation, sie ist die Botschaft zwischen Sender und Empfänger, sie ist die Attraktivität, die eine Beziehung zwischen Beobachter und seinem wahrgenommenen Gegenüber voraussetzt. Die