EINS
LONDON, SALTWELL STREET, 22. FEBRUAR, 7.45 UHR
Rebecca fuhr im Bett hoch. Hatte sie gerade Schüsse gehört? War es so weit? Würde aus den Demonstrationen nun ein Bürgerkrieg werden? Sie rieb ihre Augen, reckte sich und hörte aus der Ferne Sprechchöre, Geschrei und Polizeisirenen. Ihre Wohnung in der Saltwell Street lag nur einige Hundert Meter von Londons Finanzzentrum Canary Wharf entfernt. Seit Wochen kam es nach einem verheerenden Hackerangriff auf die Weltbörsen und dem daraus resultierenden drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu immer stärkeren Protesten breiter Bevölkerungsschichten. Das Epizentrum der Unruhen waren jene Orte, an denen sich schon beim letzten Crash 2008 die ausgemachten Schuldigen befunden hatten: Banker, Zocker, Großkonzerne, Hedgefonds und Politiker.
Rebecca stand auf, streckte ihren Kopf nach hinten und atmete einmal laut aus. Auf dem Weg zur Küche vernahm sie ein grollendes Geräusch, das sich zu einem fast ohrenbetäubenden Lärm steigerte. Das Gemisch aus Motorenbrummen und Sirenengeheul vor ihrer Wohnung ließ sie im Flur erstarren, die Blaulichter drangen durch das kleine Fenster der Eingangstür und reflektierten sich im Flurspiegel. Der Boden unter ihren Füßen zitterte, im Schrank klapperte das Geschirr, und das Wasser in dem Aquarium ihrer beiden Goldfische schlug kreisrunde Wellen. Rebecca ging an die Tür, öffnete sie nur einen Spalt weit und sah einen Armeewagen nach dem anderen vorbeifahren. Sie erhaschte einen Blick auf die besorgten Mienen schwer bewaffneter Soldaten. Schnell schloss sie die Tür, rannte in ihr Schlafzimmer, zog sich Strümpfe, eine graue Stoffhose und einen weiten, bunt gemusterten Wollpullover über, fuhr sich einmal durch die dunkle Lockenmähne, ging zu ihrem Schreibtisch und klickte ihren Rechner aus dem Schlafmodus.
Die Schlagzeilen konnten sie nur kurz beruhigen. Das Innenministerium brachte die Armee in London nur wegen der Überlastung der Polizei zum Einsatz, um das Finanzzentrum vor weiteren Attacken der aufgebrachten Menge zu schützen. Was jetzt wirklich geschehen würde, wie es weitergehen würde, war für Rebecca ein seit Wochen im Geiste durchgespieltes Szenario, denn als Inspector des Serious Fraud Office, einer Sonderabteilung für schwere Wirtschaftsverbrechen bei Scotland Yard, war sie an den Ermittlungen gegen die Attentäter auf die Börsen direkt beteiligt gewesen.
Die bedrohliche Kulisse dieses Morgens im Nacken, musste sie mit den Händen am Türrahmen gestützt mehrmals tief durchatmen. In das Gefühl von Angst mischten sich Schuldgefühle, denn sie war an den Tätern so nah dran gewesen, dass sie den Anschlag zumindest für den Moment vielleicht hätte aufhalten können – und genau das war das Problem gewesen. In einem Augenblick ihrer Karriere, nur einmal, war sie nicht mehr nur die Polizistin, sondern auch der Mensch Rebecca Winter, mit eigenen Überzeugungen, gewesen. Nur ein Moment des Zögerns – und der Lohn dafür waren Nachforschungen des britischen Geheimdienstes, der dem Verdacht nachging, dass Rebecca nicht entschieden genug gehandelt hatte. Und nur ihr Vorgesetzter, Superintendent Robert Allington, wusste, dass es noch weitaus schlimmer gewesen war.
Offiziell war sie beurlaubt. In Wirklichkeit war sie seit über acht Wochen vorübergehend vom Dienst suspendiert und hatte sich die meiste Zeit in ihrer Wohnung vergraben, hatte nur gelegentlich in dieTimes geschaut, die mit»Sind wir am Ende?« titelte, oder Berichte im Fernsehen gesehen, von Verletzten und sogar ersten Toten aus den Unruheherden Europas und dem Rest der Welt, von Hamsterkäufen, von Beschwichtigungen der Politik und den Zentralbanken oder von sich bestätigt fühlenden Mahnern, die diesem System schon lange sein Ende vorausgesagt hatten. Andere prophezeiten, dass alles, was nun geschehe, ein reinigender Prozess wäre, an dessen Ende ein Neuanfang möglich sei.
Gerade als sich die Kolonne der Armee entfernt hatte und sie in der Küche den Wasserkocher anschaltete, klingelte ihr Handy. Sie ging zum Schreibtisch und schaute auf das Display. Es war Allington. Würde sie jetzt ihre Kündigung oder gar eine Anklage erwarten? Sie atmete einmal tief durch und hob ab.
»Guten Morgen! Pack deine Sachen und komm ins Büro. Eben gerade wurde der chinesische Handelsattaché Ta Liang vor der US-Botschaft tot aufgefunden. Du kommst in die Zentrale, suchst mir die Akten raus und wartest, bis ich dich rufe, verstanden?«
»Soll das bedeuten, dass ich wieder im Dienst bin?«
»Tu, was ich sage. Bis später, es ist dringend!«, sagte Allington in einem herrischen Ton.
»Aber …«
»Ich kann es vor dem Team nicht mehr plausibel erklären, dass sich meine beste Ermittlerin seit Wochen im Urlaub befindet, während alle anderen über die Schmerzgrenze hinaus Überstunden schieben. Al