Seit mehr als zehn Minuten hatte Anna nichts anderes gesehen als Wälder und Wiesen. Kein Feld, kein Haus, kein Weg deutete darauf hin, dass in der Nähe Menschen wohnten. Doch sie musste richtig sein. Die Wegbeschreibung, die sie vor einer Viertelstunde in Milmersdorf erhalten hatte, war eindeutig gewesen. Sie konnte sich nicht verfahren haben. Bisher war sie an keiner Kreuzung, Querstraße oder Einfahrt vorbeigekommen. Da war nur diese eine Straße, die sich endlos durch den Wald wand.
Und hier sollte irgendwo das Haus stehen, das sie von ihrer Tante geerbt hatte? So langsam glaubte Anna schon nicht mehr daran. Andererseits war Tante Elisa eine Eigenbrötlerin gewesen. Soweit Anna wusste, hatte sie nie jemanden wirklich an sich herangelassen und war ihrer Familie weitestgehend aus dem Weg gegangen. Deswegen hatte Anna sie auch nur ein einziges Mal gesehen. Nun war Tante Elisa tot und Anna im Besitz eines Grundstücks in der Nähe von Milmersdorf. Nähe war in diesem Fall allerdings irreführend.
Im Radio sang Eddi Markgraf von der Rockband Damn Silence gerade davon, dass er sich entschieden hatte, seinen eigenen Weg zu gehen und endlich er selbst zu sein. Das Lied ließ Anna lächeln. Sie mochte die Band und hatte einige Lieblingslieder, doch dieser Song hatte es ihr besonders angetan. Es war, als wäre er nur für sie geschrieben worden.
Außerdem hatte er ihr in letzter Zeit Glück gebracht.
Als sie vor vier Monaten einen Anruf von Tante Elisas Anwalt erhalten hatte, kam der Song gerade im Radio. Ein paar Tage später, auf dem Weg zur Testamentseröffnung, lief er auf ihrem MP3-Player in Dauerschleife. Dann war schließlich das Unglaubliche passiert: Zum Erstaunen ihres Vaters und ihrer empörten Tante Lisbeth war sie zur Alleinerbin von Elisas Vermögen erklärt worden. Niemand konnte sich den Grund erklären. Am wenigsten Anna selbst. Ihr Vater und Tante Lisbeth hätten ein viel größeres Anrecht gehabt. Tante Elisa war die älteste Tochter von Annas Oma väterlicherseits gewesen und stammte aus deren erster Ehe. Annas Vater und Tante Lisbeth waren also Elisas Halbgeschwister. Ihr Vater hatte sich nie besonders für seine älteste Schwester interessiert. Zu groß waren der charakterliche und auch der Altersunterschied gewesen. Deshalb hatte Anna ihre Tante erst so spät kennengelernt.
Tante Lisbeth war stinksauer gewesen, das hatte Anna ihr angesehen, auch wenn ihr Vater sofort versuchte, seine ältere Schwester zu beruhigen. Er bedachte Anna nur mit fragendem Blick, bevor er Lisbeth aus dem Raum begleitete.
»Sind Sie sicher, dass Tante Elisa wirklich mich gemeint hat?«
Der Anwalt lächelte milde und nickte.
»Aber warum?«
»Ihre Tante war wohl der Auffassung, Sie könnten sich am besten um das Grundstück kümmern.«
Anna horchte auf. »Wie meinen Sie das?«
Er blickte auf die Dokumente in seiner Hand, nickte, dann sah er sie über seine Brille hinweg an. »Oh, das hatte ich vorhin ganz vergessen zu erwähnen: Sie bekommen das Grundstück nur unter der Auflage, alles instand zu halten, und dürfen es mindestens zehn Jahre lang nicht verkaufen.«
»Heißt das, ich muss dort wohnen?«
Anna dachte an ihre Wohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg, die sie mit ihrem Freund Marco bewohnte, und an ihren Job als Projektleiterin beiLifeStyle, einem Unternehmen, das sich auf das Marketing bei Pharmafirmen spezialisiert hatte. Eine Beförderung war ihr bereits in Aussicht gestellt worden. Sie hatte keine Zeit, sich um ein Haus außerhalb der Stadt zu kümmern. Zumindest war ihr Kopf dieser Meinung. Ihr Herz sah das ganz anders: Als der Anwalt ihre Frage bejahte, begann es, freudig erregt zu klopfen. »Wissen Sie, in welchem Zustand sich das Haus befindet?«
Der Anwalt wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Nun ja. Es war alles in Ordnung, als ich vor ein paar Jahren dort war.«
In Annas Gedanken war bei seinen Worten das Bild eines malerischen Bauernhauses entstanden, umgeben von weiten Wiesen. Sie meinte sogar, den frischen Geruch gemähten Grases wahrzunehmen und Vögel zwitschern zu hören. Sie hatte den Wunsch, in der Natur und mit Tieren zu leben und zu arbeiten, schon beinahe vergessen. Das Leben in Berlin entsprach der Vorstellung ihrer Eltern sowie Marcos. Es war eine Vernunftentscheidung gewesen, nach dem Studium ihre Träume hintenanzustellen, die von Marco vermittelte Stelle als Projektleiterin anzunehmen und erst einmalGeld zu verdienen, wie sich ihr Vater auszudrücken pflegte. Ein Haus auf dem Land konnte ihre Chance sein, endlich das Leben zu leben, das sie sich immer vorgestellt hatte. Sie woll