Aber das kann’s nicht gewesen sein. Vielleicht der noch unbewusste Boden, auf den dann das Feuer fiel. Ich war acht, als Alwin Kronacher in Frankfurt die Römerberg-Festspiele gründete. Mein Vater, jetzt im Städtischen Revisionsamt angestellt, holte mich aus meiner verfallenden hessischen Residenz, die Provinz wurde, in die festlich aufgezwirbelte Stadt. Die Innenstadt abgesperrt. In den engen Gassen drängten sich die Besucher. Die Spieler, schon in Rüstung und Gewändern, auch die Pferde. Um halb acht hieß es: »Bitte Plätze einnehmen.« In der Mitte des Römerbergs um den Brunnen der Justitia war eine Tribüne gebaut. Die Fensterlöcher waren voll besetzt. Dann plötzlich ganz Stille, Erwartung, Fanfaren, es ging los. Die Tore unten gingen auf, die Schauspieler kamen. Es gab bald Schlachtgetümmel, mittendrin eine Frau, die später auf hohem Pferd saß, Fahne in der Hand. Man sagte mir, das sei der Einzug in Reims. Sie spielten Schillers »Jungfrau von Orleans«. Mit acht verstand man das noch nicht, aber man guckt und guckte und guckt und ging nach dem großen Beifall später an Vaters Hand aufgeregt nach Hause.
Wenn ich tagsüber allein im Frankfurter Zimmer saß, weil er Firmen revidierte, übte ich auf seiner neuen Schreibmaschine tippen. Zwei Finger, bis heute. Und was fabrizierte ich: Eintrittskarten für mein Theater über dem Misthaufen daheim. Es bestand noch zwei Jahre, die Bäckerei wurde verkauft, damit meine Phantasie. Aber wie sich jetzt zeigt: nicht die Erinnerung.
Die Festspiele auf dem Römerberg sind sicher sowas wie eine Zündung gewesen. Viermal durfte ich zu den Festspielen, die die Nazis schon 1933 als ihre Erfindung ausgaben. Da sah ich Heinrich George. Man sagte mir, wer das war. Während der Schuljahre in Bremen sah ich etliches, aber es blieb nichts, außer dem »Lohengrin« in der Staatsoper, der mir fast fürs Leben, wenigstens bis 82, reichte. Ich weiß heute, was ich da verpasst habe. Danach wollte ich alles einholen. Ich bin noch auf halber Strecke. Die im Schauspiel habe ich dann doch dreimal gemacht. Das Schauspiel hat mich wie ein Geschenk überrascht: Es hat mich getroffen, weil es mich aus meinem Alltag entführte; und dann betroffen, als ich in die Tiefe der Schicksale sah, die es ergründend vor Augen führt.
Ich muss mal weiterdenken. Wann wurde ich zum ersten Mal betroffen? Wenn ich das bedenke, komme ich immer wieder auf Borcherts »Draußen vor der Tür«. Das war bald nach dem Krieg. Das waren genau unsere Fragen in das dämmernde Bewusstsein, in das man kommandiert war, zu sterben. Und dann die großen Inszenierungen im kaputten Frankfurt. Hilperts glänzend bitteres Tableau von Zuckmayers »Des Teufels General«, mit Martin Held als Harras. Ich staunte, wie »Zuck« in Vermont, im Exil, die Göring-Welt gezeichnet hatte. Den Leutnant Hartmann, oder den Saboteur Oderbruch, den die Zuschauer von 1948 noch hassen konnten. Die Diskussionen – nein, ich mache den Deckel auf den Topf. Was kocht da auf: Ich will das alles nicht mehr wissen. 70 Jahre verdrängt. Irgendwo in mir hat das doch überlebt. Ich mache schnell den Deckel auf den Topf.
»Trauer muss Elektra tragen«, »Eines langen Tages Reise in die Nacht«, »Endstation Sehnsucht«. Das waren Nachrichten aus Amerika. Die Welt öffnete sich mit dem Theater. Eugene O’Neill und Tennessee Williams, Giraudoux, Anouilh und Lorca öffneten den Blick. Zehn Jahre dauerte der Strom von draußen. Nie hat das Theater in Deutschland eine so poetische Rolle übernommen. Es waren fast üppige Jahre. Dazu die Literatur von Kafka bis Hemingway. Ich spüre plötzlich die Wohltat der Erinnerung. Darf ich mir noch erlauben, nochmal 28 zu sein? Wird man nicht zornig auf das Altern? Werde ich zornig? Auf das, was mir passierte? Ich kann nicht lesen, was ich eben schrieb. Verdammt noch mal!
Heute wählen sie in Amerika. Gestern haben sie in meinem Dorf den wärmsten Novembertag seit Aufzeichnungsbeginn gemessen. Ich habe die Männer, die vor zwei Tagen ein paar Straßen weiter Erde aushuben, gefragt: »Was macht ihr?« – Sie antworteten fröhlich: »Das wird ein Parkplatz.« Wieder einer, der vier