: Günther Rühle
: Gerhard Ahrens
: Ein alter Mann wird älter Ein merkwürdiges Tagebuch
: Alexander Verlag Berlin
: 9783895815799
: 1
: CHF 17.50
:
: Briefe, Tagebücher
: German
: 232
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der andere Günther Rühle: 'Ich suche mich, indem ich's hinschreibe.' Vom fortschreitenden Verlust des Augenlichts gezeichnet und nachdem er die Vollendung des dritten Bandes seiner Geschichte des 'Theaters in Deutschland' hat aufgeben müssen, beginnt Günther Rühle im Alter von 96 Tagebuch zu führen. Die Eintragungen, ein halbes Jahr umfassend, fangen im September 2020 an und enden im April 2021. Rühle bekennt in seinen Tagebüchern, dass er in gut siebzig Jahren publizistischer Arbeit und nach 'zigtausenden hingetippten Sätzen von mindestens 900 Kilometern Länge' versäumt habe, über sich selbst nachzudenken. 'Am Rand des Lebens' angekommen, horcht er nun in sich hinein: Im Selbstgespräch ist er sich selbst der Stoff und beginnt, ins 'Blinde' zu schreiben, denn lesen kann er die Zeilen nicht mehr. Die Fragmente langer Tage und unruhiger Nächte schreiben sich in sein Tagebuch ein; verdrängte Gedanken und Gefühle, Eingebungen und Träume - 'Bilder aus dem Dunkeln des Vergessens', in denen die Erinnerungen an die Kindheit, den Krieg, den Nationalsozialismus ebenso eine Rolle spielen wie die Rückblicke auf seine journalistische Arbeit (FAZ, Tagesspiegel), die Arbeit als Theaterintendant und prägende Lebensbegegnungen (u.a. Bernhard Minetti, Martin Wuttke, Einar Schleef). Und natürlich immer gegenwärtig: das Nachdenken über das 'Altern im Alter'. Darf man noch gespannt sein auf die Zukunft, wenn man bei wachem Geist der 'körperlichen Abrüstung' zuschauen muss? Eine endgültige Antwort gibt es nicht: 'Die Gefühle lösen einander ab. Morgens in sich gespalten, wünscht man sich das Ende und greift noch nach dem Leben. Zweimal und oft am selben Tag.' Der forschend aufspürende Theaterhistoriker ist diesmal sich selbst auf der Spur und muss in seinen Aufzeichnungen festhalten: 'Ich treffe immer öfter auf einen Unbekannten, der doch Ich war.'

Gu?nther Ru?hle, einer der angesehensten deutschen Theaterkritiker und Theaterschriftsteller, wurde 1924 in Gießen geboren. Er war von 1960 bis 1985 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit 1974 auch dessen Leiter. 1985-1990 war er Intendant des Schauspiel Frankfurt und danach Berater der Herausgeber des Tagesspiegel in Berlin. Er edierte u. a. die Werke von Marieluise Fleißer und von Alfred Kerr, entdeckte dessen 'Berliner Briefe'. Seine großen Dokumentationen 'Theater fu?r die Republik. 1917-1933' und 'Zeit und Theater 1913-1945', dann seine zusammenfassende Darstellung 'Theater in Deutschland. 1887-1945' wurden grundlegend fu?r Erforschung und Nacherleben des Theaters jener Zeit. Gu?nther Ru?hle ist Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Ku?nste, war Präsident der Alfred Kerr Stiftung und ist heute deren Ehrenpräsident. Er wurde ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis (1962), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2007), dem Hermann-Sinsheimer-Preis (2009), dem Binding-Kulturpreis (2010) und der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Meda lle (2013). Gerhard Ahrens, geboren 1944, war nach dem Studium an der FU Berlin bei Peter Szondi und an der Universite? Paris 8 Vincennes-Saint-Denis als Kurator fu?r moderne Kunst an der Kestner Gesellschaft Hannover, dann in der Ku?nstlerischen Leitung am Schauspiel Frankfurt, Schiller Theater Berlin und bis 2000 an der Berliner Schaubu?hne ta?tig. Seit 1993 daneben auch als ku?nstlerischer Berater fu?r das Kunstfest Weimar, die Stiftung Schloss Neuhardenberg und die Movimentos Festwochen in Wolfsburg. Zahlreiche U?bersetzungen und Publikationen u?ber Theater und Bildende Kunst im XX. und XXI. Jahrhundert. Er lebt in Berlin.

November 2020


2. November 2020


Aber das kann’s nicht gewesen sein. Vielleicht der noch unbewusste Boden, auf den dann das Feuer fiel. Ich war acht, als Alwin Kronacher in Frankfurt die Römerberg-Festspiele gründete. Mein Vater, jetzt im Städtischen Revisionsamt angestellt, holte mich aus meiner verfallenden hessischen Residenz, die Provinz wurde, in die festlich aufgezwirbelte Stadt. Die Innenstadt abgesperrt. In den engen Gassen drängten sich die Besucher. Die Spieler, schon in Rüstung und Gewändern, auch die Pferde. Um halb acht hieß es: »Bitte Plätze einnehmen.« In der Mitte des Römerbergs um den Brunnen der Justitia war eine Tribüne gebaut. Die Fensterlöcher waren voll besetzt. Dann plötzlich ganz Stille, Erwartung, Fanfaren, es ging los. Die Tore unten gingen auf, die Schauspieler kamen. Es gab bald Schlachtgetümmel, mittendrin eine Frau, die später auf hohem Pferd saß, Fahne in der Hand. Man sagte mir, das sei der Einzug in Reims. Sie spielten Schillers »Jungfrau von Orleans«. Mit acht verstand man das noch nicht, aber man guckt und guckte und guckt und ging nach dem großen Beifall später an Vaters Hand aufgeregt nach Hause.

Wenn ich tagsüber allein im Frankfurter Zimmer saß, weil er Firmen revidierte, übte ich auf seiner neuen Schreibmaschine tippen. Zwei Finger, bis heute. Und was fabrizierte ich: Eintrittskarten für mein Theater über dem Misthaufen daheim. Es bestand noch zwei Jahre, die Bäckerei wurde verkauft, damit meine Phantasie. Aber wie sich jetzt zeigt: nicht die Erinnerung.

Die Festspiele auf dem Römerberg sind sicher sowas wie eine Zündung gewesen. Viermal durfte ich zu den Festspielen, die die Nazis schon 1933 als ihre Erfindung ausgaben. Da sah ich Heinrich George. Man sagte mir, wer das war. Während der Schuljahre in Bremen sah ich etliches, aber es blieb nichts, außer dem »Lohengrin« in der Staatsoper, der mir fast fürs Leben, wenigstens bis 82, reichte. Ich weiß heute, was ich da verpasst habe. Danach wollte ich alles einholen. Ich bin noch auf halber Strecke. Die im Schauspiel habe ich dann doch dreimal gemacht. Das Schauspiel hat mich wie ein Geschenk überrascht: Es hat mich getroffen, weil es mich aus meinem Alltag entführte; und dann betroffen, als ich in die Tiefe der Schicksale sah, die es ergründend vor Augen führt.

Ich muss mal weiterdenken. Wann wurde ich zum ersten Mal betroffen? Wenn ich das bedenke, komme ich immer wieder auf Borcherts »Draußen vor der Tür«. Das war bald nach dem Krieg. Das waren genau unsere Fragen in das dämmernde Bewusstsein, in das man kommandiert war, zu sterben. Und dann die großen Inszenierungen im kaputten Frankfurt. Hilperts glänzend bitteres Tableau von Zuckmayers »Des Teufels General«, mit Martin Held als Harras. Ich staunte, wie »Zuck« in Vermont, im Exil, die Göring-Welt gezeichnet hatte. Den Leutnant Hartmann, oder den Saboteur Oderbruch, den die Zuschauer von 1948 noch hassen konnten. Die Diskussionen – nein, ich mache den Deckel auf den Topf. Was kocht da auf: Ich will das alles nicht mehr wissen. 70 Jahre verdrängt. Irgendwo in mir hat das doch überlebt. Ich mache schnell den Deckel auf den Topf.

»Trauer muss Elektra tragen«, »Eines langen Tages Reise in die Nacht«, »Endstation Sehnsucht«. Das waren Nachrichten aus Amerika. Die Welt öffnete sich mit dem Theater. Eugene O’Neill und Tennessee Williams, Giraudoux, Anouilh und Lorca öffneten den Blick. Zehn Jahre dauerte der Strom von draußen. Nie hat das Theater in Deutschland eine so poetische Rolle übernommen. Es waren fast üppige Jahre. Dazu die Literatur von Kafka bis Hemingway. Ich spüre plötzlich die Wohltat der Erinnerung. Darf ich mir noch erlauben, nochmal 28 zu sein? Wird man nicht zornig auf das Altern? Werde ich zornig? Auf das, was mir passierte? Ich kann nicht lesen, was ich eben schrieb. Verdammt noch mal!

3. November 2020


Heute wählen sie in Amerika. Gestern haben sie in meinem Dorf den wärmsten Novembertag seit Aufzeichnungsbeginn gemessen. Ich habe die Männer, die vor zwei Tagen ein paar Straßen weiter Erde aushuben, gefragt: »Was macht ihr?« – Sie antworteten fröhlich: »Das wird ein Parkplatz.« Wieder einer, der vier