Mein Buch entsteht in einer wilden Zeit. Die Diskussion über Rassismus hat die Gesellschaft – endlich! – erfasst. Der Mord an George Floyd durch einen weißen US-Polizisten im Mai 2020 hat etwas aufgebrochen. Wie vor einigen Jahren bei der #MeToo-Debatte über Sexismus und sexuelle Belästigung wagen viele erstmals, öffentlich über den Rassismus zu sprechen, den sie täglich erleben. Dadurch wird auch vielen Betroffenen erst das Ausmaß des Problems jäh bewusst – und sie reagieren mit verständlicher Wut darauf, dass sie so lange allein mit den Schmerzen, Kränkungen und Verletzungen waren. Gräben reißen auf. Mit nachvollziehbarer Ungeduld, mit kämpferischer Wut, manchmal auch mit Verbissenheit fordern manche sofortige Veränderungen oder formulieren bittere Vorwürfe. Und manche schreiben allen Weißen pauschal bestimmte Eigenschaften zu.
Auch Übertreibungen gehören zu diesem Prozess des Aufbrechens; ich verstehe, wie sie zustande kommen. Und sie haben auch ihren Sinn, weil sie die Größe des Problems und der Frustration sichtbar machen. Denn der Rassismus liegt wie ein altes, verfilztes und schwer zu beseitigendes Wurzelwerk knapp unter dem Boden, auf dem wir gehen und stehen. Manchmal drängt eine seiner riesigen hässlichen Wurzeln ans Tageslicht: Hass. Gewalt. Tod. Darüber stolpern dann viele. Sie halten kurz inne, schütteln ungläubig und vielleicht auch empört den Kopf – und gehen danach weiter ihrer Wege. Aber der Rassismus bleibt die ganze Zeit da. Direkt unter uns. Er verletzt und schmerzt jeden Tag. Auch der, der nicht, wie die Todesqualen von George Floyd, mit der Handykamera gefilmt wird.
Zum Glück hat sich jetzt ein vielstimmiger Proteststurm erhoben. Die weißen Mehrheitsgesellschaften werden schärfer und hartnäckiger mit der ungleichen Chancen- und Machtverteilung konfrontiert.Black, Indigenous, People of Color (BIPoC), zu den Begriffserklärungen komme ich noch, werden permanent benachteiligt, und der Protest dagegen ist notwendig und berechtigt. Aber er kann nicht das Ende sein.
Denn wenn die Anklageschriften geschrieben, die Analysen erstellt, die Appelle formuliert sind, dann stellt sich eine Frage: Und jetzt? Genügt uns diese Bestandsaufnahme? Betrachten wir den Rassismus als unausrottbares Übel und begnügen uns mit wiederkehrender Empörung? Nehmen wir hin, dass unsere Gesellschaft sich weiter spaltet, wie die der USA, und in Gruppen zerfällt, die nicht mehr miteinander kommunizieren, sondern sich nur noch wütend attackieren und sich ansonsten in ihre Identitätsräume zurückziehen? Oder sollen wir unsere Hoffnung in militanten Antirassismus setzen, in den Kampf einer Minderheit gegen die unbelehrbare Mehrheit? Dieselben Fragen stellen sich im Übrigen für jede andere Form der gruppenbezogenen Diskriminierung – von Antisemitismus über Homophobie und Behindertenfeindlichkeit bis Sexismus.
Wie also geht es weiter, wenn der berechtigte Zorn auf dem Tisch liegt? Ich will, dass wir als Gesellschaft trotzdem im Gespräch miteinander bleiben. Ich will nicht, dass wir uns als feindselige Gruppen gegenüberstehen und in Schützengräben verschanzen. Denn wir sind mehr als Angehörige eines Geschlechts, Mitglied einer (oder keiner) Religion, Träger*innen einer Hautfarbe – wir sind auch Nachbar*innen, Kolleg*innen und Staatsbürger*innen. Und als solche sollten wir miteinander reden können. Wenn es besser werden soll, müssen wir das gewaltige Thema Rassismus gemeinsam angehen, bei aller Angst, Frustration und Anstrengung, die ein solcher Prozess mit sich bringt. Wir haben keine Wahl, wenn wir als Gesellschaft ein gutes Miteinander gestalten wollen. Ich bin sicher: Die Diskriminierung von Gruppen beruht nicht immer auf Bösartigkeit. Oft stecken Unwissen, Angst, Gedankenlosigkeit und fehlende Selbstreflexion dahinter. Damit der Kampf gegen Rassismus ein gesellschaftlicher Prozess bleibt und nicht zum Krieg ausartet, ist es wichtig, seine in ihren Ursachen verschiedenen Erscheinungsformen auch unterschiedlich zu behandeln. Bösartigem und gewalttätigem Rassismus muss man anders begegnen als arg- und ahnungslosem. Nicht zu vergessen den duldenden Rassismus derer, die bei Beleidigungen und Übergriffen gegen Mitmenschen schweigen und wegschauen.
Allen gemeinsam ist jedoch eins: ein Mangel an Respekt. Wer sein Gegenüber nicht als Individuum wahrnimmt, sondern aufgrund seiner Hautfarbe in eine Schublade steckt oder Schlimmeres, verweigert ihm die Begegnung auf Augenhöhe, also den Respekt, den alle Menschen einander schulden. Zum Respekt gehört auch, anzuerkennen, dass es Rassismus gibt – auf dem Arbeitsmarkt, auf dem Wohnungsmarkt, bei Behörden und Sicherheitsorganen