: Kristina Dunker
: Schmerzverliebt
: SAGA Egmont
: 9788726968118
: 1
: CHF 8.70
:
: Erzählerische Bilderbücher
: German
: 228
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein wichtiger Roman der erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Kristina Dunker für den sie den 'silbernen Lufti', eine Auszeichnung für Jugendbücher in Deutschland, erhielt. Pia ist 16 Jahre alt und scheint einfach ein nettes junges Mädchen zu sein. Doch was keiner weiß, sie ritzt sich heimlich. In einem alten Kuscheltier hat sie für solche Situationen Verbandszeug versteckt. Erst als Pia Sebastian kennenlernt, kommt ihr Geheimnis ans Licht...-

Kristina Dunker wurde 1973 in Dortmund geboren und schrieb ihr erstes Buch bereits zu ihrer Schulzeit. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie Kunstgeschichte und Archäologie in Bochum und Pisa. Mittlerweile ist Kristina Dunker eine erfolgreiche Schriftstellerin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher. Neben dem Schreiben veranstaltet die Autorin auch Lesungen und Workshops für Kinder und Jugendliche.

1 Pia


„Findest du den Pudding auch so lecker? Ich hab schon drei Mal nachgenommen, ich könnt Berge davon essen.“

Dass dieser Junge zu viel isst, kann man nicht übersehen. Ich will mich bücken, um den kleinen Löffel aufzuheben, der mir heruntergefallen ist, da reicht er mir bereits einen neuen.

„Danke.“

„Keine Ursache.“ Er mustert mich. „Was hast du an deinen Armen gemacht?“, will er wissen.

Auf die Frage bin ich nicht vorbereitet. Bisher hat glücklicherweise niemand bemerkt, dass ich unter meinen Pulloverärmeln, die ich mir bis über die Handgelenke gezogen habe und zusätzlich mit den Fingerspitzen festhalte, etwas zu verbergen suche. Weder meine Freundin Conny, auf deren Geburtstagsfeier wir gerade sind, noch meine Mitschüler oder meine Familie.

„Wieso?“, entgegne ich unfreundlich. Das ist keine Antwort, aber ich muß Zeit gewinnen.

„Na, weil du deinen Pulli so komisch festhältst.“

Entweder drehe ich mich jetzt weg und rede kein Wort mehr mit dem neugierigen Typen oder ich lasse mir blitzschnell eine Geschichte einfallen. Die Wahrheit kann ich auf gar keinen Fall sagen.

„Ach, das meinst du“, beginne ich, „ich hab die Arme voller Wespenstiche. Die jucken schrecklich.“

„Wespenstiche?“

„Ja genau. Gut, dass die Viecher mich nur an den Armen erwischt haben und nicht im Gesicht. Da hab ich echt Glück gehabt. Wir haben nämlich ein Nest im Garten, das hab ich erst heute entdeckt, oder besser gesagt, mein kleiner Cousin hat’s entdeckt: er hat seinen Fußball mitten reingeschossen.“

„Oh!“

Glaubt er mir? Ich bin mir nicht sicher.

„Der Kleine ist erst vier und einfach seinem Ball hinterhergelaufen...“

„Nein!“

„Natürlich kamen die Wespen sofort in Schwärmen aus ihrem Nest raus und ... na, du kannst dir ja vorstellen, was da los war!“

So erschrocken wie er jetzt guckt, muß er mir einfach glauben. Jetzt nickt er zustimmend. Er nimmt mir die Story also ab. Perfekt! Gut, dass ich nicht einfach einen auf Zicke gemacht und mich ohne Ausrede weggedreht habe. So ist es viel besser. Ich bin ein unschuldiges Wespenopfer. Das klingt so gut, dass ich es selbst gern glauben möchte.

„Und da bist du mitten rein in den Wespenschwarm und hast ihm das Leben gerettet?“

„Na ja, das Leben gerettet nun nicht gerade.“ Ich mache eine abwehrende Handbewegung. Schließlich darf man beim Lügen nicht zu dick auftragen.

„Sicher hast du das! Er hätte sterben können! Was meinst du, wie viele Menschen auf Wespenstiche allergisch reagieren? Ich zum Beispiel! Und Kinder sind ja noch viel empfindlicher! Was ist mit dem Kleinen passiert? Hat er viel abbekommen?“

„Geht so. Ich hab ihn ja rechtzeitig weggezogen. So dramatisch war’s nun auch wieder nicht.“

Der Junge schüttelt den Kopf. „Du brauchst das nicht bescheiden herunterzuspielen, ich weiß, wie aggressiv Wespen sein können. Mir ist mal eine ins Hosenbein geflogen, ich sag dir, da bin ich aber gehüpft!“

Er macht eine umständliche Bewegung, hält seinen massigen Bauch mit beiden Händen fest und versucht ein paar schwerfällige Sprünge.

Es sieht komisch aus. Ich muß grinsen.

„Ich bin gehüpft wie eine Gazelle!“

Er lacht locker über sich selbst, und ich lache mit. Glück gehabt, vom Thema Wespen sind wir erstmal runter. Der naive Dickwanst hat außerdem Humor.

„Also, ich glaub’s nicht, das ist schon ein verrückter Abend.“ Er wischt sich eine Lachträne von der Wange. „Ich hatte zuerst gar keine Lust, zu dieser Party zu kommen. Ich kenne Conny kaum, und hab nicht gedacht, dass ich mich hier wohlfühle und nette Leute treffe. Und schon gar nicht hab ich erwartet, hier ne echte Heldin kennenzulernen!“ Er betrachtet mich voller Stolz. „Wie heißt du? Ich heiß Sebastian, hab ich das schon gesagt?“

„Mm...nein.“

„Gut, also: ich bin Sebastian! Hier, laß uns mit einem Glas Sekt anstoßen! Deine Rettungsaktion muß gefeiert werden!“

Ich spüre, dass ich rot werde. Die Hitze steigt in meinen Kopf, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Heldin! Rettungsaktion! Von wegen!

„Nein, danke, ich... ich möchte keinen Sekt.“

„Warum denn nicht? Der schmeckt gut!“

Sebastian greift nach zwei Gläsern, gießt sie voll.

„Ich hab den gerade schon probiert, da hat Conny wirklich nicht am Geld gespart. Und zum Pudding passt er auch.“ Er drückt mir ein Glas in die Hand, strahlt mich an. „Prost, Lebensretterin!“

„Prost, Sebastian!“, flüstere ich, stoße mit ihm an und setze das Glas an die Lippen. Ob er meine Geschichte längst durchschaut hat und nur so tut, als ob er mir glauben würde? Vielleicht will er mich mit seinem überschwänglichen Lob aufziehen oder aus der Reserve locken? Ich habe Angst, aber ich weiß nicht, was ich anderes tun soll, als an meiner Lüge festzuhalten und weiterzuspielen.

Es gelingt mir zu trinken, obwohl ich lieber weglaufen möchte. Immer verhalte ich mich so, wie die anderen Menschen es von mir erwarten: höflich, freundlich, unauffällig.

Ich verziehe keine Miene, als sich jemand an mir vorbei drängt und dabei meine Arme berührt. Ich lächele, als die tiefen Schnittwunden, die ich mir vor wenigen Stunden selbst mit einer Raiserklinge zugefügt habe, wieder anfangen höllisch zu brennen und die Scham über diese Tat auch den inneren Schmerz auflodern lässt; ich lächle, während ich spüre, wie ich unter meinem Pulli blute, und ich lächle und stoße noch einmal mit Sebastian an und als er zum dritten Mal fragt, verrate ich ihm endlich meinen Namen.

„Pia“, wiederholt er, „schön.“

„Na, ich weiß nicht. Die meisten Leute nennen mich Püppi.“

„Och nee.“ Sebastian verdreht die Augen. „Das passt nicht zu dir. Aber mach dir nichts draus, es gibt Schlimmeres. Mich nennen sie Fleischwurst.“

Das ist nicht fair. Sebastian hat strahlend blaue, wache Augen, ein knuffiges Grinsen und strohblonde Haare, die ihm keck ins Gesicht fallen. Er sieht nett aus. Schade, dass er so dick ist.

„Warum nimmst du nicht ab? Ist doch nicht so schwierig.“

„Nöö“, er streicht sich über den Bauch, „weiß nicht. Vielleicht irgendwann mal. Jedenfalls nehme ich nicht ab, nur weil andere das von mir verlangen.“

„Verstehe.“ Ich nippe an meinem Sektglas, doch es ist leer.

„Möchtest du noch?“

„Mmmh.“ Vielleicht geht die Unsicherheit weg.

Er gießt mir Sekt ein, berührt mit den Fingerspitzen meine Halskette.

„Die gefällt mir“, sagt er bewundernd. „Was sind das für Muscheln? Hast du sie selbst gesammelt? Ich bekomme richtig Sehnsucht.“

„Nein“, ich lächele, „leider nicht. Das sind Exoten aus der Südsee. Eine Tante hat sie mir mitgebracht. Ich bin bisher gerade mal an der Nordsee gewesen.“

„Sag nichts gegen die Nordsee! Da findet man immerhin Herzmuscheln. Sie sehen aus wie in Form gebrannter Sand, schimmern in allen Ocker- und Brauntönen und liegen schön in der Hand. Kennst du die?“

Ich nicke, und einen Moment lang blicken wir uns in wohlwollendem, stummen Einverständnis an, wie zwei Menschen, die schon lange miteinander vertraut sind und über Dinge reden, für die sie eigentlich keine Worte mehr brauchen.

Dann streicht er langsam und nachdenklich mit der Zeigefingerspitze über den Rand seines Glases. „Mein Vater hat ein Segelboot, damit kreuzen wir in den Sommerferien mit Freunden übers Mittelmeer, von Insel zu Insel, das ist echt toll. In zehn Tagen ist es wieder soweit: sechs Wochen Ausspannen, Baden und Tauchen, na ja... das heißt, Tauchen tut hauptsächlich mein Vater, ich nicht, kannst dir ja denken, Fett schwimmt oben, aber dafür bin ich letztes Jahr Gewinner im Muschelwettessen geworden.“

„Dein Alter muss ja echt Kohle haben.“

Das rutscht mir so raus, ich sage es ohne Neid, aber Sebastian wird dennoch verlegen, und, wie um es zu überspielen, gießt er mir erneut Sekt ein und sagt: „Wenn du willst, kannst du ja mal auf so einen Segeltörn mitkommen.“

„Ja, vielleicht.“ Ich nicke. Keiner von uns beiden meint es ernst. Nun werden wir noch verlegener, Sebastian starrt auf meine Kette oder sonstwohin, ich kippe den Sekt wie Wasser, blicke in mein schon wieder leeres Glas und spüre wie der Alkohol anfängt zu wirken.

...