: Dr. Christian Hardinghaus
: Ferdinand Sauerbruch und die Charité Operationen gegen Hitler
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958902695
: 1
: CHF 10.60
:
: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ungeachtet seiner medizinischen Verdienste zählt Ferdinand Sauerbruch zu den umstrittensten Ärzten der Zeitgeschichte. In den Jahrzehnten nach dem Krieg dominierte in den Medien ein positives, fast heroisches Bild des Menschen und Mediziners, der ab 1928 als Professor für Chirurgie an der Berliner Charité arbeitete. Dafür gesorgt hat er selbst durch seine mit fiktionalen Inhalten angereicherte Biografie 'Das war mein Leben', in der er sich überwiegend als 'Halbgott in Weiß' darstellen lässt. Erst seit Beginn dieses Jahrhunderts wird dieses Bild erschüttert, wirft man ihm Sympathie, ja sogar Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten vor. Christian Hardinghaus hat für 'Ferdinand Sauerbruch und die Charité' neue unveröffentlichte Quellen erschlossen - darunter das bisher geheime Tagebuch von Sauerbruchs Assistenten Adolphe Jung - und zahlreiche Berichte, Briefe, Interviews und persönliche Erinnerungen von Mitarbeitern und Freunden studiert. Herausgekommen ist dabei nicht nur die erste umfassende Biografie des bedeutenden Chirurgen, sondern auch seine Rehabilitation: Ferdinand Sauerbruch unterstützte eine Widerstandsgruppe um den Spion Fritz Kolbe, die sich an der Charité gebildet hatte, und war auch in die Attentatspläne Stauffenbergs eingeweiht. Bis Kriegsende behandelte er nicht nur 'verbotenerweise' Juden, sondern versteckte sie und andere Verfolgte des Naziregimes in der Charité vor der Gestapo. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse muss die bisherige Beurteilung von Sauerbruchs Haltung gegenüber dem NS-Regime neu bewertet werden.

Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, promovierte nach seinem Magisterstudium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung und schloss danach ein Studium des gymnasialen Lehramtes mit dem Master of Education in der Fachkombination Geschichte/Deutsch ab. Seine historischen Schwerpunkte liegen in der Erforschung des NS-Systems und des Zweiten Weltkriegs. Er veröffentlicht sowohl Sachbücher als auch Romane.

PROLOG


»Unter der Laterne vor der Reichskanzlei

hängen alle Bonzen, der Führer hängt dabei.

Und alle Leute bleiben steh’n,

sie wollen ihren Führer seh’n!«

Der Mann in abgewetzter grauer Uniformjacke mit herausgeschnittenem Wehrmachtsadler und Hakenkreuz singt laut, damit er die eigenen Worte versteht. Draußen vor den Gefängnismauern donnert die russische Artillerie seit Tagen. Kaum mehr zu hören ist ein deutsches Maschinengewehr. Das ist Albert Schwerdtfegers einzige Freude, der zusammen mit 26 weiteren sogenannten Defätisten, Deserteuren und Verrätern in Wehrmachtuntersuchungshaft im Zellengefängnis an der Lehrter Straße 3 in Berlin-Moabit einsitzt. Wenn es doch den Russen noch gelänge, dieses eine Gebäude einzunehmen, bevor man ihn hinrichten wird, denkt der Gefreite. Dummerweise hat er dieses Lied, das der Grund für seine Verhaftung war, immer schon recht laut gesungen. Daher hatten es auch zwei Feldpolizisten gehört und ihn in der halbzerstörten Likörfabrik erwischt, in der er bleiben und so lange Zitronenschnaps trinken wollte, bis der Krieg aus war. Dass es sich nur noch um Tage handeln konnte, war für ihn abzusehen. Heute ist der 29. April 1945, aber noch immer wird gekämpft.

»Warum tun die Kameraden sich das noch an?«, fragt Schwerdtfeger laut, aber die anderen Soldaten, die hier im Dunkeln auf ihren Matratzen liegen, antworten ihm nicht. »Verdammte Kettenhunde«, schreit Schwerdtfeger, bevor er wieder sein Lied anstimmen will. Doch gerade als er seine Lippen öffnet, katapultiert ihn die Druckwelle einer gewaltigen Explosion durch den Raum. Mit dem Kopf schlägt Schwertfeger gegen einen Gitterstab, hält sich benommen die Hand vor die Stirn. Als er sie runternimmt, kann er seinen Augen kaum trauen – sie werden von Feuer geblendet. Heller Rauch schießt durch ein breites Loch, das sich in der Mauer abzeichnet, mitten hinein in die Zelle. Schwerdtfeger hört seine Mithäftlinge husten und schreien.

»Das gibt es doch nicht«, ruft der Soldat laut und läuft, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, auf die unverhoffte Öffnung zu, schlüpft hindurch und ist: frei!

Draußen sucht er kurz Schutz im nächsten Hauseingang. Mit dem Ellenbogen klopft er gegen seine Hose, die leicht Feuer gefangen hat. Schwerdtfeger blickt sich um. Aus dem Loch kriechen weitere Soldaten, einem fehlt der Arm. Er dreht sich angewidert weg, ihn hält hier nichts mehr. Ohne zu wissen, wohin, rennt Schwerdtfeger