Der Sommer2020
»Du hast mir die Augen geöffnet und gezeigt, wie wichtig die Black-Lives-Matter-Proteste auch bei uns waren. Ich konnte es nie ganz einordnen, warum die Proteste von denUSA aus so stark auf uns ausstrahlten – und ob es gerechtfertigt sei, die Verhältnisse in denUSA mit unseren hier gleichzusetzen. Du hast mir zu meiner Beschämung eine klare Antwort geliefert. Dafür danke ich dir sehr.«
Ich: Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd ging es mir am Anfang so, wie den meisten anderen Menschen in unserem Land wahrscheinlich auch. Er bewegte mich, tat mir leid und weh, mit mir zu tun hatte er zunächst aber eigentlich nichts. Es ging um Polizeigewalt, die ich selbst nie erlebt habe, und es ging um dieUSA. Für mich fühlte es sich erst mal noch ganz weit weg an. Wie war das bei dir, Martin?
Martin: Die Bilder des auf Georges Hals knienden Polizisten haben mich empört und gleichzeitig ein mir bekanntes Ohnmachtsgefühl hervorgerufen. Doch dann merkte ich an den Kommentaren, dass sich etwas änderte. Ich redete mit Freund*innen darüber, und eine Zeit lang gingen wir davon aus, dass es sich um eine typisch amerikanische Situation handelte. Doch plötzlich ging mir auf, dass es auch in der Schweiz vergleichbare Situationen gab. Ja, dass ich schon etliche Male von der Polizei angehalten worden war, Gott sei Dank nie so brutal. Und dann versammelten sich die Menschen auf dem Barfüsserplatz in Basel, und ich wusste, ich musste da hin, ich war es meiner eigenen Lebensgeschichte schuldig, dem, was ich seit Kindsbeinen erfahren und auch erlitten hatte. So stand ich dann mit meiner Geschichte bei den anderen, die auch ihre Geschichte hatten, und fühlte, was sie fühlten. Was haben diese Solidarisierungen bei dir ausgelöst?
Ich: Was zunächst vermeintlich nichts mit mir zu tun hatte, bewegte mich allmählich sehr. Es geschah etwas mit mir, das ich erst gar nicht bemerkte. Etwas, das dazu führte, dass mir diese Geschichte und alles, was mit dem Schwarzsein und mit Rassismus zu tun hat, immer näher kam. Es kam mir geografisch näher, aber auch emotional. Es hatte damit zu tun, dass die Rassismusdiskussionen nicht mehr aufhörten. Im Gegenteil: Sie wurden lauter und intensiver, und ich begriff allmählich, welche Gefühle und Meinungen in der Gesellschaft vorhanden sind. Ich spürte auf einmal eine große Solidarität, das war schön. Ohne dass ich danach gesucht oder verlangt hätte, tauchten plötzlich Menschen auf, die die gleichen Erfahrungen machen wie ich. Sie erzählen das Gleiche wie ich, sie erleben das Gleiche wie ich. Das war etwas komplett Neues für mich.
Martin: Für mich war neu, dass ich auf einmal mit so vielen Menschen darüber sprechen konnte. Früher waren es nur einzelne – meist ebenfalls Betroffene. Das fühlte sich dann jeweils an, wie wenn zwei Kranke sich unterhalten und der eine sagt: »Hast du auch so Kopfweh?«, und dann der andere bestätigt: »Ja, ich hab’ auch so Kopfweh«. Doch hier war es etwas ganz anderes. Der blinde Fleck wich einem Bewusstsein, und Freund*innen und Bekannte sprachen das Thema an. Es gab plötzlich einen Resonanzraum in der weißen Gesellschaft, der mich erschreckte, aber auch begeisterte. Und es gab viele Freund*innen, die zu Kompliz*innen wurden. Man hat dann auch über jene Bücher von mir gesprochen, in denen ich Diskriminierungserfahrungen beschreibe. Kurz: Es gab wie aus heiterem Himmel plötzlich ein Verständnis. Die Demonstrationen, die Berichte und Analysen waren im wahrsten Sinne eine Ermutigung. Warst du auch auf diesen Demonstrationen?
Ich: Ich war auf keiner dieser Demos. Ich hatte nicht das Bedürfnis hinzugehen – oder vielleicht muss ich eher sagen: Ich hatte Angst, hinz