: Andreas Pavlic
: Die Erinnerten
: Edition Atelier
: 9783990650646
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als sich Annemarie und Johann 1932 bei der Höttinger Saalschlacht kennenlernen, ist das ein recht ungewöhnlicher Beginn für eine Beziehung. Die Massenschlägerei zwischen Nationalsozialisten und Sozialist*innen geht als Beginn eines langen und dunklen Kapitels in die Geschichte Tirols ein. Andreas Pavlic lässt uns in seinem Debütroman an der Seite von Annemarie und Johann in den Moment der Geschichte eintauchen, mit all den Ungewissheiten, politischen Umstürzen und Entscheidungen, die die beiden erleben - vom Austrofaschismus über den Kriegsbeginn, die Invasion der Kartoffelkäfer bis ins Jahr 1945, als Innsbruck vor der Befreiung steht und sich immer mehr Menschen der nationalsozialistischen Herrschaft widersetzen. Ein starkes und exzellent recherchiertes Stück Erinnerungsliteratur, das sich trotz des großen und gewichtigen Themas leichtfüßig und unterhaltsam liest.

Andreas Pavlic, 1974 in Innsbruck geboren, lebt in Wien. Spediteur, Lagerarbeiter, Konflikt- und Gemeinwesenarbeiter, Studium der Politikwissenschaft und der Sozialen Arbeit. Forscht zu sozialen und alternativen Bewegungen. Seit 2008 Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Mitglied im Papiertheaterkollektiv Zunder. Zuletzt: (gem. mit A. Leder, M. Memoli): 'Die Rätebewegung in Österreich. Von sozialer Notwehr zur konkreten Utopie' (Mandelbaum Verlag).

27. MAI 1932


Annemarie saß zu Hause auf der alten Eckbank, hinten im spärlich eingerichteten Raum, wo auch ihr Bett stand. Sie nahm das Zwirnende in den Mund, hob das Nadelende gegen das Licht, fädelte den Zwirn durch die Öse und verknotete die beiden Enden. Sie hatte eben den zweiten Pfeil fertig gestickt und machte sich daran, den dritten, den obersten, auf das rote Tuch zu bringen. Sie mochte die Stickerei nicht besonders, aber den Vater freute es, wenn sie handarbeitend zu Hause saß, und der Gruppenleiter hatte ihr aufgetragen, ein Tüchlein mit drei Pfeilen, die einen Kreis durchkreuzen, zu machen. Die Partei hatte sich nämlich ein neues Zeichen ausgedacht, das ihren Kampf gegen die Hakenkreuzler symbolisieren sollte. Und deswegen ging an alle Frauen und Mädchen der Gruppe die Anweisung, eines zu sticken. Eine jede hatte ein rotes Tuch oder eine Fahne und eine Vorlage bekommen.

Die Mutter war beim Stricken. Zumindest war sie es gewesen, denn Hände, Stricknadeln und das Wollknäuel lagen bereits seit geraumer Zeit ruhend in ihrem Schoß. Sie saß in ihrem Stuhl, den Kopf nach hinten geneigt, den Mund offen. Sie war eingeschlafen. Der Vater war im Gasthaus bei seiner Kartenrunde, die beiden jüngeren Geschwister irgendwo unterwegs, im Wald wahrscheinlich. Gleich nach dem Abendbrot waren sie aufgestanden und rausgelaufen. Die Mutter konnte ihnen nur noch nachschreien, dass sie nicht zu spät nach Hause kommen sollen. Fast jeden Abend war es das Gleiche. Aber es waren ja noch Kinder.

Thusnelda hatte Annemarie am Vortag von einer Hakenkreuzler-Veranstaltung hier im Ort erzählt, und dass sie da unbedingt hinschauen mussten. »Es ist unsere Pflicht«, hatte sie gesagt. Aber Annemarie war gar nicht begeistert gewesen. Sie hatte geantwortet, dass sie noch die Stickerei fertig machen müsse, für den Ausflug in der kommenden Woche. Dann wollte sie mit den anderen Frauen die neuen Tücher und Fahne