Londons Nebel
Die Nebel von London konnten alles sein.
Liebe, die sich in Herzen schlich und die Sicht verschleierte. Furcht, die sich wie ein grauer Mantel um die Brust legte und die Luft zum Atmen raubte. Traurigkeit. Hass. Rettung. Verderben. Alles. Und vermischten sie sich mit dem Rauch, der aus den Schornsteinen in den Himmel stieg, konnten sie sogar Gestalt annehmen.
Jede Gestalt.
Weil Rauch und Nebel wie Wolken sind.
Sie konnten über die Dächer tanzen oder schattengleich durch die Gassen der Stadt an der Themse schleichen. Dann waren sie Jäger. Nahmen jemanden mit, einfach so.
Nie mehr tauchte dieser Jemand dann wieder auf.
Stella hatte gesehen, wie die Nebelgestalten Mary mitgenommen hatten. Direkt vor ihrer Nase war es gewesen, am Ufer der Themse, dicht bei der Tower Bridge. Sie hatten Verstecken und Fangen gespielt, obwohl sie für solche Spiele längst zu alt schienen. Aber manchmal kehrten sie zurück in die Tage ihrer Kindheit, in denen das Leben sehr viel einfacher gewesen war. Wie Urlaub war das, wie ein kleines Stück Sonnenschein im regenverhangenen Grau der Stadt.
Doch dann — ganz plötzlich — waren die Nebel aus den Wogen der Themse gekrochen. Zuerst hatten sie sich keine Gedanken gemacht. Das war London, und in London lebten die Nebel. Aber dann waren im Nebel andere Nebelgestalten aufgetaucht. Dunkler. Beinah schwarz, wie die dunkelsten Schatten bei Nacht.
Stella hatte Mary wegziehen wollen, aber gerade als sie nach der Hand ihrer besten Freundin hatte greifen wollen, waren da andere Hände, kleine Hände, die sie von ihr wegzogen. Marys Augen waren voller Unverständnis gewesen, doch ehe sie auch nur etwas rufen konnte, hatte eine der schwarzen Nebelrauchgestalten nach Mary und ihrem gepunkteten Regenschirm gegriffen und war mit ihr verschwunden. Auch alle anderen Nebelgestalten hatten sich dann in Luft aufgel