Erstes Kapitel
Phileas Fogg und Passepartout nehmen einander als Herr und Diener an
Im Jahre 1872 bewohnte Phileas Fogg die Nr. 7 der Savile Row, Burlington Gardens – dasselbe Haus, in dem Richard B. Sheridan, eines der größten englischen Rednertalente, im Jahre 1816 verschieden war.
Phileas Fogg trachtete danach, durch nichts aufzufallen; und doch zählten ihn seine Zeitgenossen zu den eigenwilligsten und berühmtesten Mitgliedern des Londoner Reform Clubs. Darüber hinaus wusste man so gut wie nichts von ihm, es sei denn, dass er ein vollkommener Gentleman und eine der elegantesten Erscheinungen der englischen Oberschicht war.
Man sagte ihm Ähnlichkeit mit Lord Byron nach – natürlich nur in den Gesichtszügen; denn Mr Foggs Füße waren tadellos geformt. Vom echten Byron unterschieden ihn auch der modische Schnauz- und Backenbart, aber er trug sich mit derselben erhabenen Gelassenheit wie sein Vorbild, dem sogar 1000 Lebensjahre keine Altersspuren aufgedrückt hätten.
Phileas Fogg stammte vielleicht nicht aus London, aber Engländer war er gewiss. Jeder Zweifel an seiner Nationalität war ausgeschlossen. Man traf ihn allerdings nie an der Börse, in der Bank von England oder in einem der Handelskontore der City. Im Londoner Hafen und in den Docks suchte man vergeblich nach einem Schiff, dessen Reeder Phileas Fogg hieß. Unser Gentleman gehörte nicht einmal irgendeinem Aufsichtsrat an. Niemals erhob er die Stimme in einem Anwaltsgremium, nicht im Temple und auch nicht in Lincoln’s Inn oder Gray’s Inn. Phileas Fogg pflegte weder beim Obersten Gerichtshof noch beim Kanzleigericht, beim Appellationsgericht oder beim Geistlichen Gerichtshof zu plädieren. Er war weder Industrieller noch Kaufherr oder Landwirt. Er gehörte nicht zu den Mitgliedern des Königlichen Instituts von Großbritannien, des Londoner Instituts, der Kunstakademie oder des Russell-Instituts, der Literarischen Gesellschaft des Westens oder der Vereinigung der Rechtsanwälte. Er war auch nicht bei der Gesellschaft der Wissenschaft und Künste eingeschrieben, die sich des Patronats Ihrer Majestät der Königin erfreute. Und schließlich besuchte er auch keinerlei Veranstaltungen der zahllosen Londoner Vereine, die nahezu alle Lebensgebiete erfassten, von der Vereinigung der Harmonika-Freunde bis zur Entomologischen Gesellschaft, die die Vernichtung schädlicher Insekten zum Ziel hatte. Phileas Fogg war Mitglied des Londoner Reform Clubs, nicht mehr und nicht weniger.
Doch was hatte dem geheimnisvollen Herrn Zutritt in diese erlauchte Gesellschaft verschafft? Ganz einfach eine Empfehlung seiner Bankiers, der Gebrüder Baring. Denen wiederum hatte die Tatsache genügt, dass die Schecks Mr Foggs stets gedeckt waren, ohne dass sich sein Kontostand jemals wesentlich verminderte.
Phileas Fogg war wohlhabend, aber niemand vermochte Auskunft über den Ursprung seines Vermögens zu geben, und Mr Fogg selbst darüber zu befragen war schlechthin unmöglich. Er war übrigens weder verschwenderisch noch geizig. Wurde er um eine Spende für wohltätige Zwecke gebeten, so steuerte er ohne Aufhebens, und oft genug sogar anonym, sein Scherflein bei.
Kurz und gut: Phileas Fogg war ein schwer zugänglicher Herr. Er sprach so wenig wie möglich, aber je schweigsamer er sich gab, desto lebhafter beschäftigten sich seine Mitbürger mit ihm. Seine Lebensweise war durchaus nicht geheimnisumwoben. Jedermann musste zugeben, dass er seine Tage auf höchst eintönige Weise verbrachte. Doch gerade diese Harmlosigkeit trieb die Phantasie der Leute zu unangemessenen Spekulationen.
Ob Phileas Fogg schon viel von der Welt gesehen hatte? Zumindest besaß er einzigartige geographische Kenntnisse und konnte noch die entlegensten Winkel der Erde verblüffend genau beschreiben. Berührte die Unterhaltung der Club-Mitglieder das Geschick verschollener oder verirrter Weltreisender, so brachte Phileas Fogg sehr schnell mit wenigen klaren Worten Ordnung in die verworrenen Vorstellungen der anderen Herren. Seine eigenen Behauptungen fußten streng auf Tatsachen, und oft genug gingen seine Voraussagen so genau in Erfüllung, als hätte er die Gabe des zweiten Gesichts. Dieser Mann musste den ganzen Erdball bereist haben – wenigstens im Geiste. Denn eines stand fest: Phileas Fogg hatte London seit Jahren nicht mehr verlassen. Selbst wer die Ehre hatte, ihn ein wenig näher