: Joseph Roth
: Hans Wagener
: Hiob. Roman eines einfachen Mannes Reclam Taschenbuch
: Reclam Verlag
: 9783159618951
: Reclam Taschenbuch
: 1
: CHF 6.50
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 206
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Leben beschert dem Tora-Lehrer Mendel Singer in seinem Schtetl harte Schicksalsschläge. Auch nachdem er mit seiner Familie nach New York emigriert ist, begleiten ihn unerträgliches Leid und Verlust. Mendel verliert jede Hoffnung und seinen Glauben an Gott. Nur ein Wunder kann ihm noch helfen. »Hiob«, veröffentlicht im Jahr 1930, war Joseph Roths erster durchschlagender Erfolg als Autor - und bildet zusammen mit dem ein Jahr später erschienenen »Radetzkymarsch« auch den künstlerischen Höhepunkt seines Schaffens. Sein »Roman eines einfachen Mannes« erzählt nicht nur ein exemplarisches Schicksal, sondern ist gleichzeitig ein Denkmal für die vernichtete Kultur des ostjüdischen Schtetls. - Mit einer kompakten Biographie des Autors.

Joseph Roth (2.9.1894 Brody [Galizien] - 27.5.1939 Paris) suchte in Bildern der Vergangenheit nach Gegenentwürfen zur nationalsozialistischen Zeit. Der jüdisch-stämmige Österreicher studierte Germanistik und Philosophie in Wien und war an seinen zahlreichen Lebensstationen als Journalist tätig. 1933 floh er vor dem Nationalsozialismus nach Paris, wo er bis zu seinem Tod lebte. Hatte er in 'Hiob', seinem ersten literarischen Erfolg, die Gefühlswelt eines Entwurzelten geschildert, beklagte er in 'Radetzkymarsch' und 'Die Kapuzinergruft' sehnsuchtsvoll den Niedergang des österreichischen Judentums und der Donaumonarchie. Mit Andreas, der Hauptfigur seines Romans 'Die Legende des Heiligen Trinkers', teilte Roth die innere Zerrissenheit und die Zufluchtnahme im Alkohol. Das Werk, das er als sein 'eigenes Testament' bezeichnet, sollte tatsächlich sein letztes sein: Kurz nach Beendigung starb der körperlich geschwächte Joseph Roth an einer Lungenentzündung.

Erster Teil


I


Vor vielen Jahren lebte inZuchnow ein Mann namensMendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Er übte den schlichten Beruf einesLehrers aus. In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kenntnis derBibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne Aufsehn erregenden Erfolg. Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet.

Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halbverhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eineMütze aus schwarzemSeidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen landesüblichen jüdischenKaftan, dessen Schöße flatterten, wenn Mendel Singer durch die Gasse eilte, und die mit hartem regelmäßigem Flügelschlag an die Schäfte der hohen Lederstiefel pochten.

Singer schien wenig Zeit zu haben und lauter dringende Ziele. Gewiss war sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. Eine Frau und drei Kinder musste er kleiden und nähren. (Mit einem vierten ging sie schwanger.) Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten kein Gold zu wägen und keine Banknoten zu zählen. Dennoch rann sein Leben stetig dahin, wie ein kleiner armer Bach zwischen kärglichen Ufern. Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Wenn die Sonne unterging,betete er noch einmal. Wenn die ersten Sterne aufsprühten, betete er zum dritten Mal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiliges Gebet mit müden aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch. Er brauchte nichts zu bereuen, und nichts gab es, was er begehrt hätte. Er liebte sein Weib und ergötzte sich an ihrem Fleische. Mit gesundem Hunger verzehrte er schnell seine Mahlzeiten. Seine zwei kleinen Söhne,Jonas undSchemarjah, prügelte er wegen Ungehorsams. Aber das Jüngste, die TochterMirjam, liebkoste er häufig. Sie hatte sein schwarzes Haar und seine schwarzen, trägen und sanften Augen. Ihre Glieder waren zart, ihre Gelenke zerbrechlich. Eine junge Gazelle.

Zwölf sechsjährige Schüler unterrichtete er im Lesen undMemorieren der Bibel. Jeder von den zwölf brachte ihm an jedem Freitag zwanzigKopeken. Sie waren Mendel Singers einzige Einnahmen. Dreißig Jahre war er erst alt. Aber seine Aussichten, mehr zu verdienen, waren gering, vielleicht überhaupt nicht vorhanden. Wurden die Schüler älter, kamen sie zu andern, weiseren Lehrern. Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts.

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