: Anton E. Wirmer
: Jacob Joussen, Gregor Thüsing
: Sentire cum ecclesia Zur Auslegung kirchlichen Rechts - besonders Arbeitsrechts - durch staatliche Gerichte
: Lambertus Verlag
: 9783784134239
: Schriftenreihe zum kirchlichen Arbeitsrecht
: 1
: CHF 35.10
:
: Sozialpädagogik, Soziale Arbeit
: German
: 156
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Selten zuvor sind so viele religionsbezogene juristische Streitfälle ausgetragen worden. In vielen Fällen standen und stehe n Fragen der Auslegung kirchlichen Rechts durch staatliche Gerichte im Kern der Auseinandersetzung. Auch wenn Kirche und Staat heute institutionell getrennt sind, gibt es Inder staatlichen Wirklichkeit weiterhin viele Berührungspunkte oder auch Überschneidungen, gerade in manchen Sozialbereichen. Der soziale Rechtsstaat hat die Gestaltungsformen kirchlichen Wirkens weitgehend in seine Rechtsordnung integriert. In den gemeinsamen Arbeitsfeldern stoßen damit zwei unterschiedliche Rechtsordnungen aufeinander. Dabei stellen sich eine Reihe von Zuordnungsfragen. Staatliche Gerichte stehen in manchen Rechtsgebieten vor der Problem, wie sie mit Kirchenrecht umgehen sollen. Können sie es anwenden und auslegen, vor allem aber, welche Kompetenzen stehen ihnen dabei angesichts der kirchlichen Autonomie zu? Wie weit reicht der Radius staatlicher Kontrolle bei der Beurteilung kirchlicher Rechtsfragen? Auch heute noch sind dies in Literatur und Rechtsprechung bis hin zum EuGH kontrovers diskutierte Themen.

Anton E. Wirmer, geboren 1940 in Berlin und aufgewachsen im Rheinland. Studium der Philosophie und kath. Theologie in München, Bonn und Innsbruck sowie der Rechtswissenschaft in Köln. Erste und zweite juristische Staatsprüfung. Verheiratet, zwei Kinder. Seit 1975 verschiedene Tätigkeiten im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, u.a. als Leiter des Ministerbüros von BM Dr. Blüm und der Abt. Arbeitsrecht und Arbeitsschutz. 1996 Wechsel ins Bundeskanzleramt und Leitung der Abt. 3 ( Soziales, Verkehr, Umwelt, Bildung und Forschung). Beim Regierungswechsel Ende 1998 Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Anschließend Tätigkeit als Rechtsanwalt. Im Jahr 2018 juristische Promotion. Die Herausgeber: Prof. Dr. Jacob Joussen, geb. 1971 in Duisburg, wurde zum Sommersemester 2006/2007 zum Universitätsprofessor und Lehrstuhlinhaber für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Friedrich-Schiller-Universitä Jena ernannt. Seit Sommersemester 2010 Lehrstuhlinhaber für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard), geb. 1971 in Köln, ist seit Wintersemester 2004/2005 Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn.

C.  Auslegungsmethoden nach religiösem Recht


I.    Historische Aspekte


Die Entstehungsbedingungen für die jungen christlichen Gemeinden waren durch die religiösen und politischen Verhältnisse im Imperium Romanum geprägt. Dementsprechend war auch die Entwicklung einer kirchlichen Ordnung mit der dort geltenden weltlichen Rechtsordnung verbunden. Dies gilt besonders seit dem Aufstieg des Christentums zur römischen Staatskirche und seitdem in der spätrömischen Kaiserzeit auch kirchliche Angelegenheiten Gegenstand staatlicher Gesetzgebung wurden. Das Kirchenrecht hat dabei Elemente der römischen Rechtsordnung übernommen, ebenso wie nach dem Verfall des weströmischen Reichs auch solche germanischen -fränkischen Rechtsdenkens.94 Dazu gehörten u.a. das Eigenkirchenwesen sowie die Einbeziehung der Bischöfe und anderer kirchlicher Amtsträger in die weltliche Herrschaft.

Aber auch umgekehrt wurden innerkirchliche Normierungen in staatliches Recht übernommen, sodass auch kirchliches Gedankengut Eingang in das römische Recht fand und Einfluss auf die weltliche Rechtsentwicklung ausgeübt hat. In vielen juristischen Disziplinen ist dies spürbar.95 Durch diese gegenseitige Beeinflussung bestand aber auch die Gefahr, dass der strukturelle Unterschied zwischen weltlichem und kirchlichem Recht verblasste oder verwischt wurde.96

Neue Akzente erhielt das Kirchenrecht, seitdem es ab dem 12. Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicher Behandlung wurde (sog. Kanonistik).97 In dieser Epoche des klassischen Kanonischen Rechts wurden die verschiedenen Kirchlichen Rechtsquellen gesammelt und zum „corpus iuris canonici“ zusammengefügt. Sein Anspruch und seine Bedeutung beschränkte sich nicht auf das Kirchenrecht.98 Der CorpJC hatte im Rahmen der Rezeption des römischen Rechts erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Rechts in Europa.99 Dies gilt besonders für das Straf- und Prozessrecht, die Ausbildung einer staatlichen Ämterhierarchie, das Völkerrecht und selbst das Privatrecht. Das Kanonische Recht wurde Teil des sog. Gemeinen Rechts, das im römisch-deutschen Reich als allgemeines Recht galt. Die Rechtssammlung des“ corpus iuris canonici“ galt im Bereich der katholischen Kirche bis ins 20.Jh. und wurde erst 1917 durch die Kodifikation des „codex iuris canonici“ ersetzt.100

Bei den Kirchen der Reformation ist die Entwicklung anders verlaufen. Durch die Reformation wurden einige Elemente der bisherigen kirchlichen Lehren in Frage gestellt. Das betraf auch das Amts- und Kirchenverständnis mit entsprechenden Auswirkungen auf das Kirchenrecht. In der Epoche des landesherrlichen Kirchenregiments gerieten die evangelischen Kirchen unter staatlichen oder landesherrlichen Einfluss.101 Aus einer zunächst als Notmaßnahme gedachten Zuständigkeit des Fürsten entwickelte sich im Laufe der Jahre ein Dauerzustand. Der “corpus iuris canonici“ fand nur noch subsidiär Anwendung. Die Bedingungen für ein staatsunabhängiges, evangelisches Kirchenrecht wurden erst mit der zunehmenden Verselbständigung der Evangelischen Kirchen im 19. Jh. geschaffen.

Auch wenn das Kirchenrecht in seiner langen Entwicklung vielfach mit der weltlichen Rechtsordnung verflochten war und Formen des weltlichen Rechts übernommen hat, hat es dadurch nicht seinen besonderen Charakter als Kirchenr