1. Freundschaft
Geteiltes Leid
Meine Freundin hatte mir einen bunten Fußteppich gehäkelt. Mit grünen Fäden hatte sie das Wort »Fußkuss« hineingestickt. Mit dieser farbig gehäkelten Geste wollte sie mir Wärme und Zärtlichkeit schicken, weil sie spürte: Nicht nur das Herz trauert, auch die Augen, die Ohren und die Füße. Der ganze Körper innen und außen fröstelt und braucht Wärme. Ich schaue mir den Teppich genauer an, auf der Oberseite herrlich leuchtend in meinen Lieblingsfarben, auf der Unterseite vernähte, übrig gebliebene Fäden und Knoten. Ich gerate ins Nachdenken: Vielleicht ist es mit dem Leben genauso wie mit diesem Fußteppich. Solange man noch verwirrt, verstrickt, verzweifelt auf die abgeschnittenen Fäden schaut, hat sich unversehens schon alles zu einem stimmigen Muster zusammengefügt. Man muss nur den Teppich umdrehen und entdeckt plötzlich, wie aus diesen abgeschnittenen Fäden ein wunderschönes, sinnvolles Ganzes entsteht. Schon in Marc Aurels Weisheiten findet sich dieser Gedanke: »Betrachte nur die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bislang gesehen hast. Das nämlich heißt ein neues Leben beginnen.«
So erlebte ich diese Freundschaftsgeste wie einen Zuspruch: Das Leben hat noch etwas mit dir vor! Geh weiter und entdecke das Neue und das Unbekannte! Lass dich nicht vom Verlust beherrschen! Wende dich dem Schönen zu! In Krisen sind Freunde Schatz und Schutz. Freunde lassen uns spüren, dass wir im Dunklen nicht allein und verlassen sind. Freundschaften sind die kostbarsten Liebesbeziehungen, weil sie in Freiheit geschehen und nicht verordnet sind. Warum liebe ich diese Freundin und nicht eine andere? »Weil erer war, weil ichich war«, schreibt Montaigne über seinen Freund Boétie. Weil wir zueinandergehören, nicht wegen irgendwelcher Äußerlichkeiten oder Verdienste, sondern aus seelischer Vertrautheit und Liebe. Der Soziologe Simmel spricht in diesem Zusammenhang vom Geheimnis der Freundschaft.
Ich denke an meine Freunde, die im Unterschied zu Bekannten, mir so nahe waren, dass das Leid, das mir widerfuhr, auch ihnen wehgetan hat. Andere haben mir ihr Bedauern gezeigt, meine Freunde haben mit mir gelitten. Sie haben mich durchgetragen, mir Kontinuität und Nachsicht geschenkt. Deswegen nenne ich sie meine Herzensfreunde und meine Wahlfamilie. Sie waren mein rettendes Geländer, weil sie mich bei mir selbst gelassen haben, auch wenn ich mich verloren hatte. Sie haben meinen Schmerz gewürdigt und nicht versucht, ihn zu mindern, wegzutrösten oder wegzumachen. Sie haben sich nicht krampfhaft bemüht, mich auf andere Gedanken zu bringen, mich abzulenken oder mich abzuspeisen mit abstrakten, gut gemeinten Richtigkeiten – »das Leben geht weiter«, »irgendwann wächst Gras darüber«, »die Zeit heilt alle Wunden« –, die in finsteren Zeiten wie gedankenlose Dummheiten klingen, weil sie letztlich die Botschaft ver