: Nathaniel Hawthorne
: Der scharlachrote Buchstabe Roman
: apebook Verlag
: 9783961304172
: 1
: CHF 2.60
:
: Erzählende Literatur
: German
Der Roman spielt in der puritanischen Massachusetts Bay Colony in den Jahren 1642 bis 1649 und erzählt die Geschichte von Hester Prynne, die durch eine Affäre eine Tochter empfängt und dann darum kämpft, ein neues Leben in Reue und Würde zu führen. Die gesellschaftlichen Normen des puritanischen Neuenglands zwingen sie, ein scharlachrotes 'A' auf ihrer Kleidung zu tragen, um sie und alle anderen ständig an ihre frühere Untreue zu erinnern. Im Laufe des Lebens von Hester und ihrem Kind kämpfen beide mit dem überwältigenden Stigma von Hesters Ehebruch, und trotz des wachsenden Drucks weigert sie sich, den Vater ihres Kindes zu nennen. Hester wird öffentlich entehrt und geächtet, entwickelt sich aber durch ihre würdevolle Standhaftigkeit zur ersten wahren Heldin der amerikanischen Belletristik.

II


Der Marktplatz

Der Rasenfleck vor dem Gefängnis im Kerkergäßchen war also an einem Sommermorgen vor nicht weniger als zwei Jahrhunderten mit einer ziemlich großen Anzahl von Einwohnern Bostons bedeckt, deren Augen aufmerksam auf die eisenbeschlagene Eichentür gerichtet waren. Bei jedem andern Volke oder zu jeder spätern Periode der Geschichte von Neuengland würde die düstere Starrheit, welche die bärtigen Physiognomien dieser guten Leute versteinerte, verkündet haben, daß irgend etwas Entsetzliches bevorstehe: sie hätte nichts Geringeres als die erwartete Hinrichtung eines bekannten Verbrechers bezeichnen können, bei dem der Spruch eines Tribunals nur den der öffentlichen Meinung bestätigt hätte. Aber bei der Strenge des Charakters der frühen Puritaner war ein Schluß dieser Art nicht so zweifellos zu ziehen. Es konnte sein, daß ein träger Dienstmann oder ein ungehorsames Kind, das seine Eltern der Zivilbehörde übergeben hatten, am Schandpfahl gezüchtigt werden sollte. Es konnte sein, daß man einen Antinomisten, einen Quäker oder andern ungläubigen Sektierer aus der Stadt peitschen oder einen faulen indianischen Landstreicher, den das Feuerwasser des weißen Mannes zur Verübung von Straßenunfug getrieben, mit Striemen in den Schatten des Waldes hinausjagen wollte. Es konnte sogar sein, daß eine Hexe, wie die alte Frau Hibbins, die bösartige Witwe einer Magistratsperson, am Galgen sterben sollte. In jedem dieser Fälle wäre ziemlich die gleiche Feierlichkeit auf den Gesichtern der Zuschauer zu bemerken gewesen, wie solches einem Volke ziemte, bei welchem Religion und Gesetz fast identisch und in dessen Charakter beide so vollkommen verschmolzen waren, daß die mildesten Handlungen der öffentlichen Disziplin ihm ebenso ehrwürdig und schauerlich erschienen wie die strengsten. Die Teilnahme, welche eine Gesetzesübertretung von solchen um die Schandbühne versammelten Zuschauern erwarten konnte, war in der Tat nur gering und kalt. Andererseits konnte eine Strafe, mit welcher in unserer Zeit unausbleiblich ein hoher Grad von spöttischer Infamie und Lächerlichkeit verbunden sein würde, damals von einer fast ebenso strengen Würde wie die Todesstrafe selbst begleitet sein.

Es war an dem Sommermorgen, wo unsere Geschichte beginnt, ein bemerkenswerter Umstand, daß die Frauen, von denen sich mehrere unter der Menge befanden, ein besonderes Interesse an der Bestrafung, welche hier bevorstand, zu nehmen schienen. Die Zeit besaß noch nicht so viel Gefühlsverfeinerung, daß eine Empfindung des Unpassenden die Trägerinnen von Röcken und Miedern abgehalten hätte, auf die öffentlichen Straßen hinauszutreten und ihre nicht unsubstantiellen Personen, wenn Anlaß dazu vorhanden, bei einer Exekution in die dem Schafott nächsten Reihen der Zuschauer hineinzuzwängen.

Jene Frauen und Jungfrauen von altenglischer Geburt und Erziehung waren moralisch wie physisch aus gröberen Fasern gemacht als ihre schönen, durch eine Reihe von sechs bis sieben Generationen von ihnen getrennten Nachkommen. Denn in dieser Kette der Geschlechtsfolge hat jede Mutter ihrem Kinde eine schwächere