: Wolfgang Hegewald
: Tagessätze Roman eines Jahres
: Wallstein Verlag
: 9783835347731
: 1
: CHF 17.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 285
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Tagessätze über große und kleine Politik, Gott und Grammatik, Literatur und Leben. Wolfgang Hegewald ist ein Meister des Aberwitzes und der magischen Genauigkeit. Er wendet die Dinge, die er beobachtet, um und um, destilliert aus dem scheinbar Alltäglichen die abenteuerlichsten Bestandteile, setzt sie neu zusammen: Weltseitenblicke als Sprachkaleidoskop. So wird das Selbstverständliche plötzlich zu einem geheimnisvollen Ort des Schreckens oder existentieller Komik. 'Ist das schon die Hölle oder noch das Fegefeuer', fragt sich der Autor, der notiert, was ihm auf Reisen zwischen Hamburg und Helgoland, Neu-Ulm, Dresden und Rom geschieht und durch den Kopf geht, oder in Halberstadt, wo man sich schon auf das Jahr 2640 freuen kann, wenn das Orgelstück von John Cage nach 639 Jahren enden wird. Verwundert hört er davon, dass Greta Thunberg im Wachsfigurenkabinett jetzt neu zwischen Papst Franziskus und Helene Fischer steht. Um große und kleine Politik geht es, um Wahlen und Kunstakademien, um Gott und Grammatik, um Literatur und den zugehörigen Betrieb - und immer wieder um die Frage, ob wir begreifen, was wir gerade erleben. Hegewalds 'Tagessätze' enden mit einem 'springenden Punkt'.

Wolfgang Hegewald, geb. 1952 in Dresden, studierte Informatik und Theologie, bevor er 1983 nach Hamburg übersiedelte, da ihm die Publikation seiner schriftstellerischen Arbeiten in der DDR verweigert wurde. 1984 wurde er beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt ausgezeichnet, 1987 erhielt er ein Stipendium der Villa Massimo in Rom. Von 1993 an leitete Hegewald das Studio für Literatur und Theater an der Universität Tübingen, von 1996 bis zu seiner Emeritierung 2018 war er Professor für Rhetorik, Poetik und Creative Writing an der HAW Hamburg.

Januar


Vor der Angestellten-Akademie, dem Kraft- und Yoga-Studio und der DITIB Ali-Pasa-Moschee mustern die Wracks ausgebrannter Raketenstellungen den Bürgersteig. Aschepusteln und frischer Feuerwerksauswurf zeigen einen soeben überstandenen Böllerausbruch an; er ist glimpflicher verlaufen als in den Vorjahren.

Auf dem Weg zur U-Bahn begegnet mir niemand, am Vormittag. Eine kräftige Neujahrssonne treibt die sichtbare Welt in eine auftrumpfende Gegenständlichkeit; starker Schattenwurf.

Von der Höhe der U-Bahnstation Dehnhaide – manchmal sind die Verkehrsverhältnisse paradox – schaue ich auf den Hinterhof der Bäckerei Daube, eine Baustelle, deren Absicht und Ziel sich noch nicht erkennen lassen, und eine Garagenzeile hinab. Hochklappbare Leichtmetalltüren, geriffelt und in einem stumpfen Aluton, von Klinkermauern eingefasst. Auf dem rauroten Stein sind, jeweils links von einem Garagentor, Buchstaben zur Markierung aufgebracht, mit einer Schablone:a c h!

Wer lesen kann, der lese.

Während ich auf die Bahn warte, kommt mir plötzlich Nathan Niedlich in den Sinn. Ende fünfzig vielleicht, ein Mann aus der Nachbarschaft, mäßig adipös, von munterem Mundwerk und pedantischer Kurzsichtigkeit, läutete er gelegentlich – und immer unangemeldet – bei mir an der Tür, steckte mir kleine Texte zu, die erBagatellen ohne Tonart nannte, und wollte bei seinem nächsten Besuch mit mir darüber sprechen.

Das mochte zehn Jahre her sein. Dann verschwand Nathan Niedlich wieder, aus meinem Leben zumindest, so ankündigungslos, wie er mir erschienen ist.

Ich kenne ihn kaum, aber ich vermisse ihn. An diesem Neujahrstag.

Ob er seine Prosaminiaturen inzwischen veröffentlicht hat? Falls ja, so wäre es mir entgangen. Aber N. N.s Eitelkeit hätte mir vermutlich einen Wink gegeben.

 

Nach Ulm!

Wer von Hamburg am Neujahrsmorgen dorthin aufbricht, muss gewichtige Gründe haben.

Im ICE Darmstadt gen Frankfurt beginne ich, »Zeitreisen« von Angela Steidele zu lesen.

Ich bin zu meiner Lieblings- und Patentante Gi unterwegs. Sie ist fast vierundneunzig Jahre alt. Man hat sie am Tag vor Heiligabend in ihrer Wohnung gefunden, dehydriert und unterernährt, aber ansprechbar. Bis jetzt lebte sie allein und autonom. Klein von Statur, zierlich, fast filigran ist Tante Gi seit jeher gewesen. Sie arbeitete schon als Ärztin, da passierte es ihr gelegentlich, dass sie, in einer Bahn oder einem Bus, aufgefordert wurde, sie möge doch einem Erwachsenen Platz machen. Mit achtzig gab sie aus Vernunftgründen den Skiabfahrtslauf auf. Nun, nach ihrem Zusammenbruch, wurde sie im Bundeswehrkrankenhaus auf vierzig Kilo aufgepäppelt, in ihre Wohnung entlassen und in die Vorhöfe der Demenz, mit den Laborwerten eines jungen Mädchens. Ihr fehlt nichts. Sie kommt sich selbst abhanden.

 

Niedersächsische Passagen. Felder, Knicks, Weiden und Wiesen. Winterlicht poliert Raureifdistrikte und bringt ihnen das Glänzen bei. Der Anblick verstärkt meine Sehnsucht nach Schnee.