Januar
Vor der Angestellten-Akademie, dem Kraft- und Yoga-Studio und der DITIB Ali-Pasa-Moschee mustern die Wracks ausgebrannter Raketenstellungen den Bürgersteig. Aschepusteln und frischer Feuerwerksauswurf zeigen einen soeben überstandenen Böllerausbruch an; er ist glimpflicher verlaufen als in den Vorjahren.
Auf dem Weg zur U-Bahn begegnet mir niemand, am Vormittag. Eine kräftige Neujahrssonne treibt die sichtbare Welt in eine auftrumpfende Gegenständlichkeit; starker Schattenwurf.
Von der Höhe der U-Bahnstation Dehnhaide – manchmal sind die Verkehrsverhältnisse paradox – schaue ich auf den Hinterhof der Bäckerei Daube, eine Baustelle, deren Absicht und Ziel sich noch nicht erkennen lassen, und eine Garagenzeile hinab. Hochklappbare Leichtmetalltüren, geriffelt und in einem stumpfen Aluton, von Klinkermauern eingefasst. Auf dem rauroten Stein sind, jeweils links von einem Garagentor, Buchstaben zur Markierung aufgebracht, mit einer Schablone:a c h!
Wer lesen kann, der lese.
Während ich auf die Bahn warte, kommt mir plötzlich Nathan Niedlich in den Sinn. Ende fünfzig vielleicht, ein Mann aus der Nachbarschaft, mäßig adipös, von munterem Mundwerk und pedantischer Kurzsichtigkeit, läutete er gelegentlich – und immer unangemeldet – bei mir an der Tür, steckte mir kleine Texte zu, die erBagatellen ohne Tonart nannte, und wollte bei seinem nächsten Besuch mit mir darüber sprechen.
Das mochte zehn Jahre her sein. Dann verschwand Nathan Niedlich wieder, aus meinem Leben zumindest, so ankündigungslos, wie er mir erschienen ist.
Ich kenne ihn kaum, aber ich vermisse ihn. An diesem Neujahrstag.
Ob er seine Prosaminiaturen inzwischen veröffentlicht hat? Falls ja, so wäre es mir entgangen. Aber N. N.s Eitelkeit hätte mir vermutlich einen Wink gegeben.
Nach Ulm!
Wer von Hamburg am Neujahrsmorgen dorthin aufbricht, muss gewichtige Gründe haben.
Im ICE Darmstadt gen Frankfurt beginne ich, »Zeitreisen« von Angela Steidele zu lesen.
Ich bin zu meiner Lieblings- und Patentante Gi unterwegs. Sie ist fast vierundneunzig Jahre alt. Man hat sie am Tag vor Heiligabend in ihrer Wohnung gefunden, dehydriert und unterernährt, aber ansprechbar. Bis jetzt lebte sie allein und autonom. Klein von Statur, zierlich, fast filigran ist Tante Gi seit jeher gewesen. Sie arbeitete schon als Ärztin, da passierte es ihr gelegentlich, dass sie, in einer Bahn oder einem Bus, aufgefordert wurde, sie möge doch einem Erwachsenen Platz machen. Mit achtzig gab sie aus Vernunftgründen den Skiabfahrtslauf auf. Nun, nach ihrem Zusammenbruch, wurde sie im Bundeswehrkrankenhaus auf vierzig Kilo aufgepäppelt, in ihre Wohnung entlassen und in die Vorhöfe der Demenz, mit den Laborwerten eines jungen Mädchens. Ihr fehlt nichts. Sie kommt sich selbst abhanden.
Niedersächsische Passagen. Felder, Knicks, Weiden und Wiesen. Winterlicht poliert Raureifdistrikte und bringt ihnen das Glänzen bei. Der Anblick verstärkt meine Sehnsucht nach Schnee.