Doktor Biebers Versuchung
»Bravo!« riefen die Damen.
Die Hände, die ganz leicht, mit einer gewissen angestrengten Leichtigkeit im Kreise auf dem Tischchen gelegen hatten, so daß die Daumen und die kleinen Finger der Nachbarinnen sich fast unmerklich berührten, flogen plötzlich in die Höhe. Frau Wally Wachtel, Frau Stirling, Fräulein Rothe und die andern traten hastig zwei Schritte zurück, als befürchteten sie, das lebhafte Möbel möchte ihnen zum Schluß noch einen Stoß versetzen.
»Er hat bis dreißig gezählt, und es stimmt, geben Sie es nur zu, Herr Sägemüller!«
»Sehen Sie, Herr Doktor, wie er lächelt! Er versucht wieder sein dämonisches Lächeln, aber er ist blamiert. Er hat behauptet, mit ihm würde sich der Tisch nicht einlassen, aber er hat gleich hintereinander zwei richtige Antworten bekommen.«
»Sagen Sie doch, es stimmt?«
»Nicht ganz«, versetzte Sägemüller. »Es tut mir unendlich leid.« Er verbeugte sich vor den Damen und vor Doktor Bieber.
»Wieso? Sie wollen uns gewiß betrügen, aber der Tisch läßt sich nicht zum besten halten.«
»Oh!« sagte Sägemüller, der die Stirn in Falten zog, »ich bin höchstens im Zweifel, wem ich mehr Ehrfurcht schulde, den Damen oder dem Tische.«
Herr von Düsterbeck, ein hagerer, skeptisch lächelnder alter Herr, bemerkte, indem er die Hände in die Taschen seines zu weiten Jacketts schob:
»Also zur Sache, meine Damen! Der Tisch behauptet, Herr Sägemüller habe dreißig Mark in der Tasche. Es stimmt nicht ganz, also beträgt Ihr augenblickliches Vermögen vielleicht nur neunundzwanzig Mark fünfundneunzig, und das hat der Prophet mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln nicht auszudrücken verstanden?«
»Die Sache ist die«, erklärte Sägemüller, »daß ich vor zwei Stunden, als wir von unserer Ausfahrt zurückkehrten, wirklich genau dreißig Mark bei mir hatte.«
»Na also! Sind Sie nun nicht bekehrt?«
»Seitdem habe ich zwar gewechselt, und es sind nur noch sechsundzwanzig Mark übrig. Aber ich verlange nicht, daß der Tisch sich um jede Kleinigkeit bekümmert, die mich angeht, und bin schon mehr als befriedigt durch die Aufmerksamkeit, deren er mich gewürdigt hat.«
»Nicht wahr? Man muß auch nicht zu viel verlangen.«
Die Damen schmollten ein wenig, als empfänden sie das mißglückte Experiment wie eine persönliche Kränkung. Sägemüller blickte mit einem möglichst harmlosen Gesicht von einer zur andern und sah flüchtig an dem Arzte vorüber.
Doktor Bieber stand schlank aufgerichtet in seinem dunkelblauen Gehrock, die Beine in den militärisch engen Hosen ein wenig gespreizt und die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. Er hielt den Kopf leicht geneigt, daß man die Stirn in ihrer ganzen Breite sah; und auch die tiefe Senkung der Schläfen kam zur Geltung, in die schon ein wenig graues Haar hineinhing. Und die Damen wußten doch, daß Doktor Bieber erst fünfunddreißig Jahre alt war!
Seine Lider waren halb geschlossen und tief umschattet. Er setzte, während der Kreis der Frauen lauschte, zweimal zum Sprechen an, biß sich aber jedesmal zögernd auf den kurzen blonden Schnurrbart, der nachlässig über seinen Mund hing. Endlich sagte er – und jeder fühlte, daß es weniger war, als er hätte sagen können:
»Tatsächlich gibt es in der Sphäre von Erscheinungen, in die wir uns soeben wieder hineingewagt haben, mitwirkende Umstände, die unserer Untersuchung vorläufig entgehen.«
Er lächelte, und sein Lächeln erschien so besonders liebenswürdig, weil es in einem vom Gram gefurchten Gesicht milde aufleuchtete. Wie rührend war der Herzenskummer eines gereiften Mannes!
»Darf ich bitten, Fräulein Rothe!« versetzte Doktor Bieber darauf in dem kurzen, sachlichen Ton des Arztes.
»Sie wissen, wir haben vor Tisch miteinander zu tun, und wir dürfen die Kur nicht einen einzigen Tag aussetzen. Ich bitte die Damen um Entschuldigung.«
Als der Arzt mit dem Fräulein hinausgegangen war, suchten die Damen ihre Plätze in den verschiedenen Plauderecken des weiten luftigen Salons auf. Frau Wally Wachtel machte es sich auf einem der langen Streckstühle von Bambus bequem und veranlaßte Herrn von Düsterbeck sofort, i