1. KAPITEL
Eigentlich war es ja nicht Angels Art, mitten in der Woche spontan eine Bootstour zu machen, aber hier stand sie nun an einem Mittwochabend auf dem Sonnendeck einer Schnellfähre mit im Wind flatterndem Haar, Tuch und Kleid, während der Sonnenuntergang Himmel und Meer in leuchtende Rot- und Goldtöne tauchte.
Sie war unterwegs nach Fisher Island – einer Privat-Enklave für die Stinkreichen. Die Insel vor der Küste von Miami Beach war nur mit dem Boot oder Flugzeug zu erreichen, sodass alles, was die erlauchten Bewohner brauchten, auf dem Wasser- oder Luftweg transportiert werden musste. Für sie machte genau das den Reiz aus. Für Leute vom Festland hingegen, die nach einem langen Arbeitstag Waren oder Dienstleistungen auf die Insel liefern mussten, war das eine unzumutbare Belastung, ein Affront, Freizeitberaubung und …
Autsch!
Das Boot machte einen Satz auf den Wellen und brachte Angel aus dem Gleichgewicht. Der Steuermann rief ihr zu, sich zu setzen. Sie nahm auf einer Holzbank Platz und hielt sich an der Reling fest.
Eigentlich sollte ich mich freuen, sagte sie sich. Der Auftrag war nur das Resultat der Verkettung unglückseliger Umstände. Eigentlich wäre jetzt nämlich Justine Carr, die Verkaufsleiterin der Kunstgalerie, für die Angel arbeitete, an ihrer Stelle, aber vorhin war sie beim Überqueren der Lincoln Road von einem Mini Cooper angefahren worden. Sie hatte zwar nur einen gebrochenen Knöchel und ein angeknackstes Ego, aber trotzdem waren in der Galerie Panik und Chaos ausgebrochen.
Es war nämlichArt-Basel-Woche, Alle-müssen-mit-anpacken-Woche, Keine-Zeit-Mist-zu-bauen-und-von-einem-Auto-angefahren-zu-werden-Woche. Als Justines Aufgaben in letzter Sekunde umverteilt worden waren, war auch für Angel, das jüngste Mitglied vonGallery Six, eine abgefallen.
Nachdem die Fähre im Jachthafen angelegt hatte, eilte ein Mann auf sie zu, um ihr beim Aussteigen zu helfen, doch sie reichte ihm nur wortlos ihren Metallkoffer, streifte ihre Louboutins ab und sprang ohne seine Hilfe vom Boot.
Mit einem Golfwagen brachte er sie nach Villa Paraiso – einer Apartmentanlage am Strand, die aussah wie den Hügeln Capris entsprungen. Sie passierten das Eingangstor und fuhren einen von Palmen gesäumten Weg entlang. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Sicherheitschef durfte Angel das Hauptgebäude betreten. Ein Fahrstuhl brachte sie zum Penthouse im neunten Stock.
Eine Haushälterin empfing sie an der Tür, fragte nach ihrem Namen und führte sie in ein großes Wohnzimmer. „Bitte warten Sie hier.“
Angel versuchte, erstmal tief durchzuatmen, während sie den in orangerotes Abendlicht getauchten Panoramablick auf die Bucht und die Skyline Miamis betrachtete. Das ist ja das reinste Paradies hier, dachte sie. Und nur einen Katzensprung vom Festland entfernt. Wer hätte das gedacht?
Sie legte den Koffer mit dem Gemälde auf einem Konsoltisch ab und betrachtete ihr Spiegelbild darüber. Sie war völlig zerzaust. Ihr knielanges Leinenkleid war zerknittert, und ihr Haar …Oh Gott, mein Haar! Doch als sie versuchte, ihre kastanienbraunen Wellen mit den Fingern zu ordnen, musste sie zugeben, dass die Bootsfahrt ihr ansonsten gutgetan hatte. Sie strahlte geradezu. Ihre hellbraune Haut leuchtete genauso wie ihre Augen. Erstaunlich, was ein bisschen frische Luft alles bewirken konnte.
Vielleicht sollte sie öfter ins Freie gehen.
Aber es gab eine Menge, das sie öfter machen sollte: sich mit Männern treffen zum Beispiel, Sexting, unter Leute gehen, vielleicht sogar tauchen. Immer nur zu arbeiten,