1. KAPITEL
Lucy Armstrong hatte ihre Flucht sorgfältig geplant.
Wenn sie ihrem Vater ein für alle Mal entkommen wollte, durfte sie sich keinen Fehler erlauben!
Es würde nicht leicht werden. Sie war für Michael Armstrong einfach zu wertvoll. Aber nicht, weil sie seine Tochter war. Nein, das hatte damit gar nichts zu tun. Ein Hauslehrer hatte vor etlichen Jahren herausgefunden, dass Lucy nicht nur ein Zahlengenie war, sondern auch ein Gespür für Finanzen besaß. Und ihr krimineller Vater hatte sofort gewusst, wozu er die Talente seiner Tochter nutzen konnte: Geldwäsche. Inzwischen war Lucy für ihn unentbehrlich, wenn es darum ging, die Herkunft seines illegal erworbenen Geldes zu verschleiern!
Auf keinen Fall würde Michael Armstrong seine Tochter kampflos gehen lassen. Unablässig überwachte er sie, so wie er früher auch ihre Mutter überwacht hatte.
Lucy brauchte jedoch nur eine einzige Stunde ohne Beaufsichtigung. Das war lange genug, um Stufe zwei ihres Plans umzusetzen: Sie würde sich der Gnade des Feindes ihres Vaters ausliefern.
In Stufe drei würde sie ihn bitten, sie zu verstecken und ihr dabei zu helfen, unterzutauchen …
Es war nicht der beste Plan – Lucy verließ sich nur ungern auf andere Menschen –, doch der Tod ihrer Mutter durfte nicht umsonst gewesen sein. Denn Lucy hatte ihrer Mutter damals versprochen, dass sie ihrem Vater entkommen würde. Koste es, was es wolle.
Sie hoffte, dass ihr Plan gelingen würde. Sie hatte alle möglichen Variablen berücksichtigt, aber sie konnte nicht alles planen.
Die größte unbekannte Variable war er: Vincenzo de Santi. Der Erzfeind ihres Vaters.
Sie hatte Nachforschungen angestellt. Die de Santis waren eine berüchtigte italienische Mafiafamilie, für die ihr Vater einst gearbeitet hatte. Zumindest bis die Matriarchin verhaftet worden war und ihr Sohn Vincenzo das Ruder übernommen hatte. Denn nun begann Vincenzos Kreuzzug gegen die großen Verbrecherfamilien Europas.
Eine nach der anderen hatte Vincenzo sie zu Fall gebracht und aufgeliefert. Es hieß, er sei selbst für die Inhaftierung seiner eigenen Mutter verantwortlich gewesen. Das einst korrupte Geschäftsimperium der de Santis war gesäubert worden. Jetzt war es ein erfolgreiches Vorzeigeunternehmen.
Vincenzo de Santi war in seinem Streben nach Gerechtigkeit skrupellos gewesen und hatte sich viele Feinde gemacht. So auch ihren Vater.
Und genau das machte de Santi zu ihrer perfekten Zuflucht.
Von der Bushaltestelle aus blickte Lucy auf das alte Gebäude. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass de Santi heute in London sein würde, um nach dem Auktionshaus seiner Familie zu sehen. Das kam Lucy gerade recht. Das Auktionshaus war der perfekte Ort, um sich seiner Gnade auszuliefern, denn es lag in einer ruhigen Gegend und war leicht zugänglich.
Trotzdem hatte sie nicht viel Zeit. Die Sicherheitsmänner ihres Vaters, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, hatten zweifellos bereits herausgefunden, dass sie sich vorhin in dem Café nicht nur ihre Nase pudern gegangen war.
Und sie würden sie finden, darüber machte Lucy sich keine Illusionen.
Das bedeutete, dass sie zur zweiten Stufe ihres Plans übergehen musste, und zwar schnell.
Mit gesenktem Kopf eilte Lucy über die Straße zum Auktionshaus de Santi und trat ein. An der Rezeption saß ein elegant gekleideter junger Mann. Als sie sich näherte, blickte er auf. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“
Lucy klammerte sich an ihrer unförmigen Handtasche fest. Ihr Herz pochte. „Ich möchte bitte mit Mr. de Santi sprechen.“
„Haben Sie einen Termin?“
Das war die Schwachstelle ihres Plans. Sie hatte nur ihren Namen. Aber Vincenzo de Santi würde ihn