KAPITEL 1
ALS ICH GEBOREN WURDE, gab es für das, was ich war, keinen Namen. Deshalb war ich für die anderen eine Nymphe, denn man ging davon aus, dass ich mich wie meine Mutter und Tanten und meine unzähligen Cousinen entwickeln würde. Da wir zu den niedrigsten unter den niederen Gottheiten zählten, waren unsere Kräfte so armselig, dass wir uns damit kaum die Unsterblichkeit zu bewahren vermochten. Wir sprachen mit den Fischen und züchteten Blumen, wir schwatzten den Wolken die Regentropfen ab und den Wellen das Salz. Das Wort Nymphe steckte die Leitlinien unserer Leben ab. Denn in unserer Sprache bedeutet es nicht nur Göttin, sondern auch Braut.
Meine Mutter war auch eine von ihnen, eine Najade, Hüterin der Quellen und Brunnen, der Bäche und Flüsse. Helios, mein Vater, konnte den Blick nicht mehr von ihr abwenden, als er den Palast ihres Vaters Okeanos besuchte. Helios und Okeanos saßen zu jener Zeit oft bei Tisch zusammen. Sie waren Vettern und im gleichen Alter, was man ihnen aber nicht ansah. Helios erstrahlte hell wie frisch geschmiedete Bronze, während Okeanos bereits mit wässrigen Augen und einem weißen Bart, der ihm bis zu den Lenden reichte, auf die Welt gekommen war. Doch sie waren beide Titanen und zogen die Gesellschaft des anderen der jener grünschnäbligen Götter im Olymp vor, die von der Entstehung der Welt nichts mitbekommen hatten.
Okeanos’ Palast sorgte für großes Staunen, so tief in die Felsen der Erde gebaut. Die Hallen mit ihren hohen Gewölbedecken waren vergoldet und die Steinböden von Jahrhunderten göttlicher Füße geglättet. Durch jeden Raum zog sich das leise Plätschern von Okeanos’ Fluss, dem Weltenstrom. Die Farbe seines Wassers war so dunkel, dass sich nur schwer sagen ließ, wo genau sein Felsenbett begann und wo es endete. An seinen Ufern wuchsen Gras und zarte Blumen sowie die ungezählte Kinderschar des Okeanos, Najaden und Nymphen und Flussgötter. Seidig glänzend wie Otter, lachend, mit strahlenden Gesichtern im dämmrigen Licht, reichten sie sich goldene Kelche und rauften oder neckten sich im Liebesspiel. Mitten unter ihnen, all diese liliengleiche Schönheit noch überstrahlend, thronte meine Mutter.
Ihr Haar hatte einen warmen Braunton, und jede Strähne schimmerte wie von innen beleuchtet. Sie musste die Blicke meines Vaters wie Hitzeschwaden eines Lagerfeuers gespürt haben. Ich sehe es vor mir, wie sie ihr Kleid drapiert, damit es ihr wie von ungefähr über eine Schulter rutscht. Ich sehe vor mir, wie sie ihre glänzenden Finger ins Wasser taucht. Ich habe sie Tausende solcher Kniffe tausendfach anwenden sehen. Mein Vater fiel jedes Mal darauf herein. Er lebte in dem Glauben, die natürliche Weltordnung bestehe einzig und allein zu seinem Wohlgefallen.
»Wer ist das?«, fragte mein Vater Okeanos.
Okeanos hatte bereits viele goldäugige Enkel von meinem Vater und erfreute sich an dem Gedanken, es könnten noch mehr werden. »Meine Tochter Perse. Sie gehört dir, wenn du sie willst.«
Am Tag darauf fand mein Vater sie an ihrer Quelle in der Oberwelt. Es war wunderschön dort, alles war bedeckt mit großblütigen Narzissen, über die sich Eichenzweige rankten. Kein Schmutz, keine schleimigen Frösche, nur saubere runde Steine, die dem Gras wichen. Selbst mein Vater, der sich nichts aus den Finessen der Fertigkeiten von Nymphen machte, bewunderte ihr Werk.
Meine Mutter wusste, dass er sich auf dem Weg zu ihr befand. Zart und anmutig war sie, aber auch durchtrieben und mit einem Verstand ausgerüstet, der so scharf war wie die Fangzähne eines Aals. Sie hatte längst erkannt, mit welchen Mitteln ihresgleichen an die Macht gelangen konnte, und zwar ganz sicher nicht durch Bastarde und Techtelmechtel am Uferrand. Als er vor ihr stand, umhüllt von seinem goldenen Glanz, lachte sie ihn aus.Dir beiwohnen? Warum sollte ich?
Mein Vater hätte sich natürlich nehmen können, was er wollte. Aber Helios bildete sich etwas darauf ein, dass alle Frauen bereitwillig das Bett mit ihm teilten, egal, ob Sklavin oder Göttin. Auf den Altären ihm zu Ehren qualmten und rauchten die Opfergaben dickbäuchiger Mütter und glücklicher unehelicher Kinder als Beweis seiner begehrten Manneskraft.
»Heirat«, sagte sie, »oder nichts. Und wenn es zur Eheschließung kommt, dann hör mir jetzt gut zu: Dort draußen darfst du dir alle Mädchen nehmen, die dir gefallen, aber du wirst keine Einzige von ihnen mit nach Hause bringen, denn nur ich allein werde in deinem Palast herrschen.«
Bedingungen, Beschränkungen – etwas ganz Neues für meinen Vater, und Götter lieben nichts mehr als den Reiz des Neuen. »Dann sei es so«, sagte er und schenkte ihr, um den Handel zu besiegeln, eine von ihm eigenhändig aufgezogene Halskette aus seltensten Bernsteinen. Später, als ich geboren wurde, schenkte er ihr einen zweiten Perlenstrang, und danach noch einen für jedes meiner drei Geschwister. Ich weiß nicht, was ihr besser gefiel: die leuchtenden Perlen oder der Neid ihrer Schwestern, wenn sie die Halsketten zur Schau stellte. Ich glaube, sie hätte diese Stränge bis in alle Ewigkeit gesammelt, bis sie ihr irgendwann wie ein Ochsengeschirr um den Hals gehangen hätten, doch die hö