KAPITEL I
Rosenblüten, Küsse und Torte
Die Apfelbäume im Schlosshof waren zart pink erblüht und strahlten in dem hellen Sonnenlicht, das sich in zahllosen Silberkugeln brach.
Girlanden aus Glyzinien und Gardenien schmückten den steinernen Brunnen am Fuße der großen Schlosstreppe, die ein Teppich aus roten und rosafarbenen Rosenblüten bedeckte. Einhundert Bedienstete, festlich herausgeputzt in ihren dunkelblauen, in Silber gefassten Uniformen, standen entlang des Schlosstors bereit, um die königlichen Hochzeitsgäste in Empfang zu nehmen, die in den Hof strömten. Bald schien es, als habe sich die ganze Welt um den alten Brunnen versammelt, um einen Blick auf die wunderschöne junge Braut des Königs zu erhaschen. Eine herausragende Schönheit, die wie von Zauberhand dem Reich der Mythen und Legenden entstiegen war, die bezaubernde Tochter des sagenumwobenen Spiegelmachers. Inzwischen war der Schlosshof zum Bersten gefüllt mit den Abgesandten benachbarter Königreiche, die darauf warteten, dass die Hochzeit ihren Lauf nahm.
Die Königin war allein in ihrem Gemach und starrte auf ihr Spiegelbild, das mit einem recht nervösen Gesichtsausdruck zurückstarrte. Keine Frau konnte ihr Leben über Nacht so drastisch verändern und dabei nicht ein gewisses Maß an Furcht empfinden. Sie würde den Mann heiraten, den sie liebte, würde seiner kleinen Tochter eine Mutter sein und noch dazu die Königin dieses Landes. Königin. Sie sollte glücklich sein, aber etwas an dem Spiegel erfüllte sie mit einem beklemmenden Gefühl dunkler Vorahnung, das sie nicht verstand.
Verona, die Hofdame der Königin, machte sich mit einem Räuspern bemerkbar und tänzelte in das Gemach. Ihre hellen himmelblauen Augen strahlten vor Freude. Sie war von einem Leuchten umgeben, das aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien. Es betonte ihre zarte Haut und perlte von ihrem flachsblonden Haar. Die Königin brachte ein schwaches Lächeln zustande, als Verona sie in die Arme schloss. Nie zuvor war die Königin von solcher Schönheit umgeben gewesen, noch hatte sie je wahres Glück gekannt. Nicht bevor sie an den Hof gekommen war.
Und diese Frau liebte sie wie eine Schwester.
Schneewittchen folgte Verona in die Gemächer der Königin. Sie war ein bezauberndes kleines Ding von drei oder vier Jahren mit einem fröhlichen Schwung im Schritt und einem unauslöschlichen Funkeln von Glück in den Augen. Ihre Haut war heller als unberührter Schnee, ihr kleiner Schmollmund von einem Rot, tiefer als der strahlendste Rubin, und ein Wasserfall aus rabenschwarzem Haar umspielte ihr kleines Gesicht. Sie sah aus wie eine unglaublich zerbrechliche Porzellanpuppe, die zum Leben erwacht war – und heute, in ihrem roten Samtkleidchen, sogar noch mehr als sonst.
Verona hielt Schneechens winzige Hand in ihrer eigenen. Sie hoffte, das würde das kleine Mädchen davon abhalten, an den Perlen ihres wertvollen Kleides zu spielen.
„Schneechen, meine Hübsche, hör auf, an deinen Stickereien herumzuzupfen. Du ruinierst dein Kleid noch, bevor die Hochzeit überhaupt angefangen hat.“
Die Königin lächelte und sagte: „Hallo, du süßer kleiner Fratz von einem Mädchen. Du siehst heute ganz bezaubernd aus.“
Schneechen errötete und vergrub das Gesicht in Veronas Röcken, von wo aus sie ihrer Stiefmutter vorsic