Prolog
Das Schloss sah von außen ganz anders aus.
Das war der erste Gedanke der Prinzessin, als sie es wiedersah. Ihr kam es vor, als hätte sie es vor vielen Jahren zum letzten Mal gesehen, aber tatsächlich waren seitdem nur einige Wochen vergangen. Und als sie nun dieses riesige Gebäude da oben auf dem Berggipfel anstarrte, stockte ihr der Atem. Diese Mauern beherbergten zahlreiche Geister und traurige Erinnerungen an das Leben, das hinter ihr lag.
Aber das musste nicht so bleiben.
Wenn sie das taten, was sie sich vorgenommen hatten, würde sich alles ändern. Das Schloss und vor allem die Person, die dort herrschte, beeinflusste das Leben im gesamten Königreich. Darum durfte sie jetzt nicht verzagen vor dem, was sie dort drinnen vorfinden würde, auch wenn sie am liebsten davongelaufen wäre.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte Anne und schlug eine Bresche ins Brombeergestrüpp, um sich einen Pfad zu bahnen, der sie in die Stadt zu Füßen des Schlosses führte. Sie mussten darauf achten, nicht bemerkt zu werden. „Es ist nicht mehr viel Zeit bis zu den Feierlichkeiten.“
Die Prinzessin beschleunigte ihre Schritte und folgte ihrer Freundin. Sie gingen nach Hause.
Nur fühlte es sich nicht so an. Schon lange nicht mehr. Ursprünglich war das Schloss ihr Zuhause gewesen. Aber das war lange her.
Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie sich das Schloss so vergegenwärtigen, wie es in ihrer Kindheit gewesen war. In ihrer Erinnerung war das Königreich etwas Schönes und Liebenswertes. Damals war das Schloss der Stolz des ganzen Volkes gewesen. In jenen Tagen waren die grauen Steinmauern nicht mit Efeu überwuchert gewesen. Jeder Strauch, jeder Baum, jedes Blumenbeet wurde sorgfältig gepflegt. In den Volieren hatten Vögel gezwitschert. Die Fenster glänzten sauber. Der Meeresarm am Fuße des Berges hatte im Sonnenlicht geglitzert, und Besucher aus fernen Ländern hatten regelmäßig ihre Aufwartung gemacht. Die Tore hatten fast immer offen gestanden, und oft wurden ganz spontan aus einer Laune heraus Feste gefeiert.
Aber nun war alles anders. Die Fenster waren dunkel, die Vorhänge zugezogen, das ganze Schloss wirkte wie verlassen. Das Wasser in der Bucht war glatt wie Glas, denn kein Schiff wagte es mehr, die Gewässer des Königreichs anzusteuern. Die rostigen, schief hängenden Flügel des schmiedeeisernen Schlosstors waren verschlossen, der Garten verlassen bis auf einige patrouillierende Wachmänner. Die glorreichen Zeiten des Reiches waren lange vorbei.
Nachdem König Georg und Königin Katharina den Thron bestiegen hatten, hatten sie ihr Land gütig regiert. Die Bauern hatten den fruchtbaren Boden bestellt, und eine ergiebige Diamantenmine hatte für Reichtum gesorgt. Das Königspaar hatte den Wohlstand des Reichs mit regelmäßigen Festen im Schlosshof feiern lassen, und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten waren willkommen gewesen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich selbst, wie sie durch die Luft gewirbelt wurde, während eine Geige ertönte und die Menschen tanzten. Aber diese Erinnerung verging, als sie hörte, wie Anne weiter auf das Gestrüpp einschlug.
Viel zu lange war sie in dieser Festung eingesperrt gewesen und hatte darauf gehofft, dass jemand kommen und sie befreien würde. Es war eine trostlose Zeit gewesen, ohne Gesellschaft, die sie aufheitern konnte. Vielleicht hatte sie deshalb den Eindruck gehabt, dass das Schloss trotz seiner Pracht ein düsterer Ort gewesen war. Sie hatte sich damals in ihr Schicksal gefügt, um das Beste daraus zu machen, aber irgendwann konnte sie es nicht mehr ertragen.
Erst als sie ihr Gefängnis verlassen hatte, war ihr klar geworden, wie es um sie stand und dass sie sich ihre Freiheit selbst erkämpfen musste. Darum war sie zurückgekommen. Sie wollte das einfordern, was ihr zustand. Nicht nur das Schloss, sondern das ganze Reich und seinen Thron. Nicht allein für sich selbst, sondern auch für ihr Volk.
Die Zeit war reif, sie würde zurückschlagen. Auf dem weiten Weg, der hinter ihr lag, hatte sie eine Stärke in sich entdeckt, von der sie nichts gea