Erstes Kapitel
Nur eine Kanone war noch übrig.
Mulan hielt den Atem an und stemmte die Stiefelabsätze in den Schnee, während sie in dem Tal, das vor ihnen lag, nach Zeichen für die Anwesenheit der Hunnen suchte.
Nichts.
Nur wenige Minuten zuvor war von den Anhöhen ein Sperrfeuer feindlicher Pfeile auf sie niedergeregnet. Auch dort – nichts.
Alles war ruhig. Zu ruhig.
Ganz bestimmt bedeutete diese Ruhe nicht, dass die Hunnen sich zurückgezogen hatten, das war Mulan klar. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs ihre Sorge. Keiner der Soldaten neben ihr – Yao, Ling oder Chien-Po, nicht einmal ihr kleiner Drache Mushu – sagte ein Wort.
Irgendetwas stimmte nicht. Das spürte sie.
Sie starrte auf eine schwarze Rauchwolke, die sich über dem Bergkamm kräuselte wie ein böses Omen. Als sie sich langsam auflöste, kniff Mulan die Augen zusammen.
Da war etwas hinter dem Rauch. Nein, nicht etwas,jemand.
Ihr Magen zog sich zusammen. Sogar aus dieser Entfernung gab es keinen Zweifel, um wen es sich bei dieser imposanten Gestalt auf dem schwarzen Pferd handelte.
Shan-Yu.
Der Rauch löste sich auf und gab den Blick frei auf eine endlose Reihe von Hunnen-Kämpfern auf Pferden, die die Hügelkette besetzt hatten und ihnen den Weg abschnitten. Sie waren umzingelt.
Kaum mehr als zehn Männer waren von Hauptmann Li Shangs Regiment übrig geblieben, und die standen nun einer gigantischen Übermacht der Hunnen gegenüber. Außerdem hatten die Hunnen den Vorteil, dass sie von oben aus angreifen konnten. Mulan malte sich aus, was die anderen gerade dachten: Wie sollten sie das überleben?
Hauptmann Li Shang strich den Kragen seines roten Umhangs glatt und wandte sich seinen Soldaten zu. Er blickte grimmig, aber entschlossen drein. „Wir werden kämpfen“, erklärte er. „Wenn wir sterben müssen, dann auf dem Feld der Ehre.“
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Mulan ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Die Luft war eiskalt. Sie hätte nicht sagen können, ob ihre Knie zitterten, weil sie Angst hatte oder weil alles so hoffnungslos war. Vielleicht traf beides zu.
Sie wollte keine Angst haben. Angst war würdelos. Aber es gab nun mal keine Hoffnung. Was sollte sie auch tun? Ganz offensichtlich war Shang der Überzeugung, dass sie bis zum letzten Atemzug kämpfen sollten.
Trotzdem zog sie nur zögernd ihr Schwert. Es musste doch einen Ausweg geben.
Mit einem wilden Kampfschrei forderte Shan-Yu seine Männer zum Angriff auf. Im Galopp trieb er sein Pferd den schneebedeckten Hang hinab, gefolgt von seinen Männern. Das Donnern der Pferdehufe übertönte Mulans rasenden Herzschlag. Sie umfasste den Griff ihres Schwerts so fest sie konnte und versuchte, das Geräusch auszublenden, aber das war unmöglich. Gebannt starrte sie auf die weiße Wand, die die Hunnen aufwirbelten, als sie über den Schnee auf sie zupreschten.
„Yao“, sagte Shang ruhig. „Ziel mit der Kanone auf Shan-Yu.“
Das Ding ist doch eher ein Spielzeug als eine Kanone, dachte Mulan mutlos.Viel zu mickrig, um uns irgendeinen Vorteil zu verschaffen