KAPITEL I
Königin der Toten
Sorgfältig verborgen in den Tiefen des Waldes der Toten lebte eine Familie von Hexen. Ihr Anwesen aus schroffem grauem Gestein thronte auf dem höchsten Hügel und überblickte eine weitläufige Landschaft voll abgestorbener Bäume, deren morsche Äste sich wie verkrümmte, knochige Finger gen Himmel streckten.
Den Wald umschloss ein undurchdringliches Dickicht aus Rosenbüschen, an deren Zweigen noch immer winzige, wunderschön erhaltene Knospen hingen, obwohl die Büsche länger tot waren, als sich irgendeine lebendige Seele erinnern konnte. Dies war die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Wald der Toten, und die Hexen, die in diesem Wald lebten, überschritten sie nur selten, um jenen auf der anderen Seite zu schaden. Im Gegenzug verlangten sie von den Lebenden nur eine einzige Sache: ihre Toten.
Denn der Wald der Hexen bestand nicht nur aus leblosen Bäumen. Es war der Ort, an dem die Toten ihre letzte Ruhe fanden – das zumindest erzählten sich die Bewohner der nahe gelegenen Dörfer. Sie zogen es vor, den Wald wie einen Friedhof zu betrachten, zu dem ihnen der Zutritt verboten war, und in den Hexen sahen sie seine Wächter. Doch tief in ihren Herzen wussten sie, dass ihren geliebten Verstorbenen an dem Ort, der ihre letzte Ruhestätte hätte sein sollen, nur wenig Frieden vergönnt war.
Aber mit diesem Teil der Geschichte wollen wir uns jetzt noch nicht befassen. Für den Moment liegt unser Augenmerk auf der Geschichte von drei Hexenschwestern – Hazel, Gothel und Primrose – und ihrer Mutter Manea, der sagenumwobenen Königin der Toten, einer der mächtigsten und gefürchtetsten Hexen aller Zeiten.
Manea machte keinen Hehl daraus, was für eine Enttäuschung ihre Töchter für sie waren, und betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass die drei, obwohl am selben Tag geboren, keine eineiigen Drillinge waren. Eineiige Hexentöchter galten in allen magischen Reichen als große Ehre. Sie waren die Lieblinge der Götter, denn sie besaßen größere Macht und mehr magisches Potenzial als jede gewöhnliche Hexe. Und obwohl Gothel und ihre Schwestern streng genommen Drillinge waren, hätten sie nicht unterschiedlicher sein können.
Lasst uns mit Gothel beginnen, der jüngsten Schwester, wenn auch nur um einige wenige Stunden. Sie hatte rabenschwarzes Haar und dunkle Züge mit großen, ausdrucksstarken grauen Augen. Ihre wilde Mähne widerspenstiger Locken war häufig voller kleiner Äste oder trockener Blätter aus dem Unterholz, durch das sie ihren Schwestern im Toten Wald folgte, wenn die drei in der Landschaft aus Friedhöfen herumtollten. Wenn Gothel sich einmal entschied, lange genug von einem ihrer geliebten Bücher aufzuschauen, um ihre Umgebung wahrzunehmen, war sie eine charismatische Persönlichkeit, die die Aufmerksamkeit von jedem im Raum auf sich zog. Sie war eine nachdenkliche, pragmatische junge Frau, die sich nur selten von ihren Gefühlen beherrschen ließ und gänzlich darauf fokussiert war, eines Tages den Platz ihrer Mutter im Wald der Toten einzunehmen. Nur eine einzige Sache war ihr noch wichtiger: ihre Schwestern.
Hazel, die älteste Schwester, war schlaksig und schüchtern, mit großen hellblauen Augen. Ihr Haar war von einem glänzenden Silber und fiel ihr wie ein Leichentuch über die schmalen Schultern. Sie bewegte sich lautlos wie eine geisterhafte Göttin, was seltsam passend war, wenn man bedachte, wo sie und ihre