: Georg Vielmetter
: Die Post-Corona-Welt Wie wir die Zeichen der Pandemie lesen und die Trends der Zeit für uns nutzen
: Campus Verlag
: 9783593448886
: 1
: CHF 31.20
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: Internationale Wirtschaft
: German
: 303
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Strategie-Kompass für die heutige Welt Wie konnte es trotz aller frühzeitigen Warnungen zur COVID-19-Pandemie kommen? Was hat sich durch sie grundlegend verändert? Und was können wir tun, um künftig noch Schlimmeres zu verhindern? Um in der Welt nach der Krise zielgerichtet handeln zu können, müssen wir zum einen verstehen, was an welchen Stellen falsch gelaufen ist. Zum anderen müssen wir uns neu orientieren und die großen Trends und Themen der Post-Corona-Welt identifizieren. Ein Leitfaden für diejenigen, die unsere Zukunft aktiv gestalten. Für Lenkerinnen und Macher aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

Der Philosoph, Soziologe und Führungsexperte Dr. Georg Vielmetter unterstützt Spitzenmanager und Topteams als Coach und Berater und leitet eine Unternehmensakademie. Außerdem publiziert und referiert er zu Führungsfragen. Zuvor hat Vielmetter an Universitäten wie der Freien Universität Berlin gearbeitet und war viele Jahre im europäischen Managementteam der internationalen Unternehmensberatung Hay Group tätig.

Kapitel 1
Landraub, Tiermärkte und die Fleischindustrie – der zoonotische Ursprung der Pandemie


»But perhaps the biggest risk to humans is that spillover could result in the coronavirus establishing a reservoir in new animals and regions. […] This had already happened on a small scale with human–to–mink–to–human transmission on mink farms in Denmark. The discovery of the infected wild mink [in Utah in December 2020] confirmed our fears. Seeing the first wild animal with natural COVID-19 is alarming, but sadly, not surprising.«

Prof. Dr.  Jonathan Runstadler und Dr.  Kaitlin Sawatzki, Tierseuchenexperten, Tufts University

»Die Massentierhaltung ist anfällig für Pandemien und zugleich deren Verursacher. Es ist ein sich selbst zerstörender Kreislauf, der Werte vernichtet und Leben gefährdet.«

Jeremy Coller, britischer Geschäftsmann und Philanthrop

Oft ist es heiß in Wuhan, der Elf-Millionen-Metropole in Zentralchina. Heiß und feucht. Im Sommer regnet es häufig, Herbst und Winter sind trockener. Und es wird kälter, gerade im November. Wie überall auf der Welt nehmen Erkältungskrankheiten zu, die Menschen husten, haben Schnupfen, wenn es schlecht läuft, eine Grippe. Wie überall geht das in der Regel gut, aber einige haben Pech. Sie erkranken schwer, manche sogar tödlich. Das ist in Wuhan nicht anders als sonst wo auf der Welt. Mit einem Unterschied. Irgendwann im Herbst 2019 hat sich in Wuhan oder der umliegenden Provinz Hubei ein Mensch mit einem neuen Virus infiziert, das wir später SARS-CoV-2 nennen werden. Der Mensch soll ein Mann und 55 Jahre alt sein. Die Infektion soll am 17. November 2019 erfolgt sein.1 Genaueres wissen wir nicht, auch was aus dem Mann geworden ist, wurde nicht berichtet. Vielleicht war er der sogenannte Patient Null, wahrscheinlich aber ist das nicht. Der Mann hat wahrscheinlich einfach nur Pech gehabt, aber sein Schicksal löste eine Kette aus. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Wie eine Naturkatastrophe.

1.1Warum eine Pandemie keine Naturkatastrophe ist


Und genau so wird die Coronapandemie immer wieder bezeichnet. »Tatsächlich ist eine Pandemie eine Naturkatastrophe […]«, hören wir dann in Talkshows oder lesen in Zeitungen.2 Vergleiche mit Erdbeben, Überschwemmungen, Sturmfluten oder Dürren drängen sich dann auf. Doch stimmt das eigentlich? Was bedeutet eigentlich das Wort »Katastrophe«? Der Duden hat hier eine klare Definition: Er versteht darunter ein »schweres Unglück, Naturereignis mit verheerenden Folgen«3.

Aber handelt es sich bei der Coronapandemie wirklich um ein Naturereignis, ein schweres Unglück? Diese Begriffe assoziieren etwas Schicksalhaftes, so als sei die Pandemie ein Widerfahrnis, auf das wir Menschen keinen Einfluss haben, das einfach geschieht. Das viele früher wohl als »Gottgegeben« bezeichnet hätten, und manche heute noch.

Nun verhält es sich so, dass eine Lawine, die in einem entlegenen, von Mensch und Tier unbewohnten Tal des Himalaya abgeht, zwar ein mächtiges Naturereignis sein mag, aber gar nichts Verheerendes, Furchtbares an sich hat. Es gibt dort nämlich nichts zu verheeren. Und insofern stellt sie auch keine Katastrophe dar. Eine Lawine ähnlichen Ausmaßes in einem von Skitouristen überfluteten Tal der Alpen würden wir anders einschätzen. Das Abgehen der Lawine führte hier zu den »verheerenden Folgen«, die aus dem Naturereignis die Katastrophe machten. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in dem kleinen Adjektiv »verheerend«. »Verheerend« ist ein normativer, ein wertender Begriff. Es ist etwas Schreckliches, Furchtbares.

In der Naturkatastrophenforschung spricht man von Naturereignissen, die man dann als Naturgefahr qualifiziert, wenn siefür den Menschen eine enorme Gefahr darstellen können.4 »In Fortsetzung dieser Begriffsbestimmungen spricht man von einer Naturkatastrophe, wenn ein gefährliches Naturereignis eingetreten ist und Schäden nach sich gezogen hat.«5

Worin liegt im Falle der Coronapandemie das »gefährliche Naturereignis«? Womit begann die Pandemie und nahm dann ihren Lauf?

1.2Vom Tier zum Menschen: Die Zoonose ist eine Folge menschlicher Entscheidungen


Am Anfang der Pandemie stand die Zoonose. Zoonotische Infektionen übertragen sich wechselseitig zwischen Mensch und Tier und werden durch Viren, Bakterien, Parasiten oder Prionen ausgelöst. 60 bis 70 Prozent aller beim Menschen neu auftretenden Infektionskrankheiten stammen ursprünglich von Tieren: Es sind über 200 Krankheiten bekannt, die zu den Zoonosen gezählt werden. Dazu gehören die ältesten bekannten Infektionskrankheiten wie Tollwut, Pest, Tuberkulose und Influenza sowie zahlreiche mit Lebensmitteln assoziierte Infektionen, aber auch neu auftretende Erkrankungen (emerging diseases) wie Ebola, MERS (Middle East Respiratory Syndrome), BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) und verschiedene antibiotikamultiresistente Erreger. Oder eben SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome).6

Sobald Menschen mit Tieren in Kontakt kommen, sind Zoonosen möglich. Da es eine unrealistische und auch unsinnige Vorstellung ist, dass zwischen Menschen und Tieren kein Kontakt besteht, ist es also unmöglich, Zoonosen prinzipiell zu verhindern. Zoonosen sind immer möglich. Die ältesten und verheerendsten Infektionskrankheiten, wie die Pest, wüten seit Jahrtausenden (selbst heute gibt es auf Madagaskar, wo die Krankheit erst Ende des 19. Jahrhunderts eingeschleppt wurde, noch jedes Jahr neue Fälle der Beulen- und der Lungenpest7). Interessant ist aber, dass in den letzten Jahrzehnten Zoonosen deutlich zugenommen haben.

Schon 2008 berichtete die TMF (das ist die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V., die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland), dass die Gefahr zoonotischer Infektionskrankheiten stark zunimmt.8 Von insgesamt 586 in Säugetieren vorkommenden Virusspezies sind bislang 263 bereits im Menschen nachgewiesen worden. 188 Virusarten waren zoonotischen Ursprunges und gelangten entweder über Zwischenwirte oder direkt aus dem ursprünglichen Wirt auf den Menschen.9 Allein zwischen 1960 und 2004 sind 335 Krankheiten beim Menschen neu aufgetaucht, von denen mindestens 60 Prozent der Erreger von Tieren übergesprungen sind.10 Immer wieder kam es dabei zu Ausbrüchen gefährlicher und exotischer Epidemien: Machupo-Virus, Bolivien, 1962 bis 1964; Marburg-Virus, Deutschland, 1967; Ebola-Virus, Zaire und Sudan, 1976; HIV/Aids-Virus, USA, ab 1981; Sin-Nombre/Hanta-Virus, USA, 1993; Vogelgrippe H5N1, Hongkong, 1997; MERS, Saudi-Arabien, 2012. Und jetzt Sars-CoV-2, China, 2019. Und das ist nur eine Auswahl.11 Angesichts der Häufung von Zoonosen fördert die Bundesregierung seit 2007 ressortübergreifend neun verschiedene Forschungsverbünde zum Thema Zoonose-Forschung, darunter auch den Forschungsverband SARS.

Da es in den letzten 30, 40 Jahren verstärkt zu Zoonosen kam, stellt sich die Frage, woran das liegt. Wieso kommt es gerade heute verstärkt zu Zoonosen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst fragen, wo und wodurch Zoonosen typischerweise entstehen. Und das sind im Wesentlichen vier Bereiche:

a) Nassmärkte (wet markets)

Dabei handelt es sich um in Asien, zum Teil auch in Afrika verbreitete Märkte, auf denen Wildtiere lebend verkauft oder bei Kauf geschlachtet werden. Und genau hier, auf einem Fisch- und Wildtiermarkt in Wuhan, nahm im Dezember 2019 die Coronaepidemie ihren Lauf. Forscherinnen vermuten, dass die ursprüngliche menschliche Infektion über ein Schuppentier erfolgte, das wohl ein Zwischenwirt war. Als ursprünglicher Wirt des neuen Virus gilt eine Fledermausart.

b) Orte industrieller Nutztierhaltung

Nicht nur von Wildtieren, sondern auch von Nutztieren können Viren oder Bakterien auf Menschen übergehen. Hier finden wir sogar die gravierendsten Beispiele für große Pandemien, und auf diesen Bereich haben wir als Industrienation den größten direkten Einfluss. Die größte Pandemie der letzten Jahrhunderte, die sogenannte...