Prolog
Es war einer der wärmsten Tage des Sommers 1916, als sie auf den See hinausfuhren. Die Luft flirrte vor Hitze, und Libellen huschten über das Wasser hinweg, auf der Suche nach Beute.
Mit ruhigen, kräftigen Zügen ruderte Martin, während Hanna am anderen Ende des Bootes lag und die linke Hand nach den Wellen ausstreckte. Ihre Fingerspitzen berührten sachte die Wasseroberfläche, ihr Blick verlor sich in den feinen, glitzernden Wellenlinien, die sich schließlich mit dem Fahrwasser des Bootes vermischten.
Der Ruf eines Kuckucks drang aus der Ferne zu ihnen herüber. Wie hatte Hannas Großmutter immer gesagt?Am Morgen Sorgenkuckuck, am Mittag Trauerkuckuck und am Abend Glückskuckuck.
Die Mittagsstunde war vorbei, aber der Abend noch fern. Trauer war es allerdings nicht, was sie in diesem Augenblick fühlte. Sie hätte für alle Zeiten hier verharren können, zusammen mit dem Mann, den sie mehr liebte als ihr eigenes Leben.
Nach einer Weile ließ Martin die Ruder los, und das Boot kam zum Stehen. Sanft schaukelte es auf dem Wasser.
Hanna schaute zu ihrem Verlobten. Wie immer, wenn sie sein Gesicht betrachtete, strömte ein warmes Gefühl der Geborgenheit durch ihre Brust. Wie ein Prinz aus dem Märchen wirkte er mit seinem rotblonden Haar, das von goldenen Strähnen durchzogen war. Seine Augen, grün wie Smaragde, funkelten, und seine sinnlich geschwungenen Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. In seinem leicht offenen weißen Hemd, dessen Ärmel über die muskulösen Unterarme hochgekrempelt waren, strahlte er geradezu im Sonnenlicht.
»Wollen wir nicht weiterfahren?«, fragte sie, während sie zu ihm hinüberglitt.
»Nein«, antwortete er mit einem schelmischen Funkeln in den Augenwinkeln. »Hier habe ich dich endlich ganz für mich.« Er legte den Arm um sie und küsste sie. Als sie den Kopf auf seine Brust bettete, hörte sie den kraftvollen Schlag seines Herzens. Seine Wärme umfing sie, und wie immer, wenn sie bei ihm war, konnte sie die schwere Arbeit und das Leid der Patienten hinter sich lassen, mit dem sie tagtäglich konfrontiert war.
Die Arbeit im Sanatorium Friedensau war ihre Bestimmung, aber manchmal träumte sie davon, die Tage einfach nur mit Martin zu verbringen, auf einer einsamen Insel oder so wie jetzt in einem kleinen Boot.
Eine Weile verharrten sie schweigend, lauschten dem Wind, der die Bäume am Ufer zum Rascheln brachte, und sogen die von Heu- und Blütenduft geschwängerte Sommerluft in ihre Lungen.
Als sich eine Wolke über die Sonne schob, fiel ein Schatten auf das kleine Boot. Vielleicht ist es doch der Ruf des Trauerkuckucks, dachte Hanna.
»Wann musst du gehen?«, fragte sie leise. Sie sah ihn an und ließ eine Hand zwischen die Knopfleiste des Hemdes gleiten, unter den Stoff, wo sie seine Haut und seine Brusthaare spürte.
Der Einberufungsbefehl lag bereits ein paar Wochen zurück. Als Adventist hatte Martin aus moralischen Gründen den Dienst an der Waffe verweigert, doch es hatte ihm nichts genützt. Der Brief, der ihm den Termin seiner Abreise mitteilte, war gestern Abend bei ihm eingetroffen.
»Schon am Montag«, gab er zurück.
Montag. Dann hatten sie nur noch diesen Nachmittag und den morgigen Sonntag für sich. Viel zu wenig Zeit.
»Musst du denn wirklich gehen?« Hanna spürte, wie sich die Angst in ihre Brust krallte wie ein klauenbewehrtes Ungeheuer. »Wenn du nun nicht am Bahnhof erscheinen würdest …«
»Dann würde man mich sofort vors Kriegsgericht stellen und wahrscheinlich erschießen.« Martin seufzte schwer. Sie wusste um seine Angst, auch wenn er versuchte, vor ihr den Tapferen zu spielen. »Es ist nur der Sanitätsdienst. Mit den Kämpfen habe ich nichts zu tun.«
Hanna bezweifelte das. Auch Feldlazarette waren nicht gegen Angriffe gefeit. Es galt zwar als verabscheuungswürdig, sie anzugreifen, aber im Laufe des Krieges, der nun schon zwei Jahre wütete, waren bereits so viele