: Adolf Muschg
: Sutters Glück
: Verlag C.H.Beck
: 9783406776373
: 1
: CHF 15.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 335
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Um in Berlin ein neues Buch zu schreiben, verlässt A., ein Schriftsteller von siebzig Jahren, die Schweiz - und seine Ehe. Er hat beschlossen, seine Krebsbehandlung abzusetzen, dafür aber einer Figur, die er in seinem letzten Roman sterben ließ, ein zweites Leben zu bescheren. Man kann in A.s Vorsatz die Wette zwischen Kunst und Leben wiederfinden, die in der westlichen Literatur Tradition hat. Dabei stößt sie mit einer frohen Botschaft zusammen, welche die Frage durch einen Erlöser für entschieden hält, dem man nur noch glauben muss. Indem A. der Einladung folgt, in Ostdeutschland eine Weihnachtspredigt zu halten, setzt er sich dieser Versuchung aus - aber erlebt auch andere, mit denen er nicht gewettet hat. Er erfährt, dass er über Figuren seiner Erfindung so wenig allein verfügen kann wie über andere Menschen, denen er begegnet. Dafür, dass es am Ende der ursprünglichen Wette fast nur Gewinner gibt, ist allerdings eine List der Kunst nötig: die Aufführung der Tragikomödie «Amphitryon» an einem Ort zwischen Ozean und Wüste, der selbst etwas Märchenhaftes hat. Dabei macht sich hinter der Szene schon ein Spielverderber bemerkbar: ein viraler Parasit, der die Errungenschaften des Homo sapiens als Selbstbetrug zu entlarven droht.

Adolf Muschg war u.a. von 1970 - 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 - 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane «Sutters Glück» (2004), «Eikan, du bist spät» (2005) und «Kinderhochzeit» (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis und zuletzt der «Grand Prix de Littérature» der Schweiz.

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Entschuldige, sagte der Mann vor der Haustür, dem Sutter nach mehrfachem Klingeln geöffnet hatte, aber dein Telefon antwortet nie.

Das lernt es nicht, sagte Sutter.

Es gäbe Telefonbeantworter, sagte der Besucher.

Der Telefonbeantworter wäre ich, sagte Sutter.

Fritz pflegte sein Gesicht in schöner Selbstverspottung »tausendfältig« zu nennen, und seine auffällig blauen Augen strahlten nicht nur: sie schienen das Strahlen erfunden zu haben. Jetzt aber schleuderten sie Blitze, und die tausend Falten vibrierten, als stünde Fritz unter Strom. Er schluckte, und man konnte seinem ruckweise hüpfenden Kehlkopf ansehen, was er verschluckte: Emil, es reicht. Statt dessen sagte er wohlerzogen: Müssen wir vor der Tür reden?

Sie bleibt zu, sagte Sutter, sonst entwischt die Katze. Es scheint, sie kennt ihre eigene Wohnung nicht mehr. Sie bleibt ein paar Tage drin. Komm ums Haus, wir setzen uns in den Garten.

Sutters Haus war das letzte in einer Doppelkette von zwei mal elf sechseckigen Fünfzimmerhäusern, die, 1973 erbaut von Peter A. Schlaginhauf, nach seinem Willen POLYMER heißen sollten. Doch hatte die Behörde die Baubewilligung nur mit der Auflage erteilt, daß ein alter Flurname zu Ehren komme. So hieß die damals zukunftweisende Siedlung »Im Hummel«.

Inzwischen paßte die Bezeichnung auch besser zu ihr. Denn das genossenschaftliche Band, das die POLYMER-Zellen zusammengehalten hatte, war längst zerrissen. Der Suttersche Haushalt, schon zu Beginn nicht das verläßlichste Glied der Kette, hatte ihr südwestliches Ende gebildet. Und diese Randlage war die gleiche geblieben, als sich die Belegschaft der Siedlung in zwanzig Jahren verändert hatte, wenn auch nicht im Geist ihrer Gründer. Der geglättete Sichtbeton, damals ein Bekenntnismaterial, mußte sich jetzt jede mögliche Kaschierung gefallen lassen, denn er galt wieder als kalt und unmenschlich. Aus den Häusern mit Atelier-Charakter, die anzeigten, daß hier, wo nicht Künstler, so doch freiberufliche Gestalter ihres Lebens wohnten, waren durch Tüllgardinen, ondulierte Sonnenstoren und reichlich Geranienrot putzige Heimchen geworden, die – da ihnen der große Entwurf abhanden gekommen war – nur noch zu klein wirkten und mit ihrem allgegenwärtigen, jede Lücke stopfenden Zierat Platzangst verrieten.

Die Gründer ließen sich nur noch blicken, um als Vermieter nach dem Rechten zu sehen. So auch Fritz und Monika, die ihr Haus einem indischen Informatiker und seiner Familie überlassen hatten, nachdem sie als Leiterpaar an eine besonders schön gelegene Evangelische Tagungsstätte – anderswo hätte sie Akademie heißen dürfen – berufen worden waren. Den Künstler von Ballmoos hatte es mit seiner Frau Leonore im »Hummel« noch weniger lange gehalten. Die späten siebziger Jahre bescherten ihm den Aufstieg zu internationaler Geltung, und um sich in ihr zu befestigen, hatte er nicht nur ein größeres Atelier, sondern auch ein stärkeres Milieu nötig; er war nicht mehr der Typ für ein gutgemeintes Reihenhaus. Selbst der Architekt Schlaginhauf verließ sein Werk, nachdem es ihm als Stufe und Sprungbrett in ganz andere Dimensionen gedient hatte. Er ließ inzwischen gleichzeitig in St. Petersburg, Basel und Los Angeles bauen, und zum Wohnen kam er gar nicht mehr.

Sutters, nur sie, kinderlos, waren bis zu diesem Tag auf ihrer Wabe sitzen geblieben; jetzt also saß Sutter allein. Die Randlage an der grünen Wiese, die vom Vieh des nahen Mustergutes beweidet wurde, besaß ihre Vorteile; im Augenblick den, daß Sutter mit Fritz, um bei verschlossenen Türen in seinen Garten zu gelangen, keinen halben Kilometer zu gehen brauchte. Der Umweg führte, am Rand des Buschwerks, das ein Rinnsal begleitete, außen an der eigenen Mauer entlang. Diese verlängerte sich noch um ein fensterloses Stück und umfing den sechseckigen Garten mit einem Knick i