Kapitel 2
Die Belastungen und Traumata der Kinder aus Suchtfamilien wurden schon in den 80ern des letzten Jahrhunderts in einer Reihe von Fachbüchern und Ratgebern beschrieben: bei Wegscheider-Cruse und Black im Jahr 1981,Woititz 1983,Schaef 1986 undMellody 1989. In Deutschland wurde durch die Diplom-Pädagogin Ulla Lambrou erstmalig 1990 zum Thema publiziert. Diese Veröffentlichungen sind allesamt durch die Therapeutentätigkeiten der Autorinnen anwendungsorientiert. Die Erkenntnis, dass Angehörige und vor allem Kinder aus Suchtfamilien mitbetroffen sind und selbst Hilfe benötigen, ist allerdings sehr viel älter. Schon die Anonymen Alkoholiker entwickelten für Angehörige von Suchtkranken sowie für Jugendliche aus Suchtfamilien eigene 12-Schritte-Programme und etablierten schon ab Anfang der 1950er Selbsthilfegruppen für erwachsene und ab Ende der 1960er für jugendliche Angehörige (z. B.Al-Anon-Familiengruppen, 1995).
Klein (z. B. 2005a) hat mit seinen umfangreichen Forschungsbeiträgen in Deutschland auf das leidvolle Schicksal der Kinder und ihre multiplen Beeinträchtigungen und Risiken aufmerksam gemacht. Das Fachbuch vonZobel (2006) bietet einen Überblick über den Stand der Forschung. Jedoch steht bei Klein und Zobel die Gefährdung der Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Mittelpunkt der Betrachtungen. Die psychischen Folgeschäden werden von ihnen nur am Rande angesprochen.
Dieses Kapitel basiert auf der genannten Literatur wie auch auf den psychotherapeutischen Erfahrungen in der Arbeit mit Betroffenen. Es ist der Versuch, die Belastungen und Traumata in eine Systematik zu bringen, um Ihnen psychotherapeutische Kategorien der biografischen Anamnese an die Hand zu geben. Dabei wird die systemische Betrachtungsweise vonWegscheider-Cruse (1989) und auchLambrou (2008) aufgegriffen, Sucht als eine Familienkrankheit zu verstehen. Nicht ausschließlich die Sucht, der suchtkranke Elternteil und seine suchtkranken Verhaltensweisen sind als Verursacher für Schädigungen verantwortlich zu machen, vielmehr werden das familiäre Miteinander und die Atmosphäre in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, und die Anteile der co-abhängigen Bezugspersonen werden einbezogen. Die Belastungen und Traumata haben wir in vier Kategorien eingeteilt, die in Tabelle 1 aufgelistet sind. Die Tabelle kann als Anamneseschema genutzt werden, mit dessen Hilfe Sie die biografischen und aktuellen Belastungen und Traumata überblicksmäßig einstufen können.
Tabelle 1: Anamnesebogen Belastungen und Traumata
Belastungen, Traumata
Ausmaß in Kindheit
Aktuelles Ausmaß
1. Stress
Ausfallbedingte Mehrarbeit
○ nicht ○ eher ○ sehr
Krankenpflege
Last der Verantwortung
Achterbahn der Gefühle
Krise als Normalität
2. Emotionale Vernachlässigung
Mangel an Annahme und Liebe
Mangel an Responsivität
Alleingelassenwerden
Sprachlosigkeit, Tabuisierung
Wegschauen anderer
Disharmonie, Loyalitätskonflikt
3. Soziale Beeinträchtigungen
Familiäre Isolation
Mangel an Anregungen
Mangel an Ermutigung
Mangel an Orientierung
Mangel an Auseinandersetzung