2. Station:
Am Ende des Tunnels
Wer mit dem Auto nach Hamburg will und es nicht besser weiß, fährt durch den Elbtunnel. Und zwar ganz langsam. Weil’s so schön ist.
Es soll ja Leute geben, die geradezu süchtig nach Staus sind. Die irgendwie das Gefühl brauchen, im Kollektiv Widrigkeiten ausgesetzt zu sein, die sie nicht selbst zu verantworten haben: »Ich bin ein Spielball der Elemente«, denken diese Freizeitmasochisten und freuen sich dann, dass es anderen auch nicht besser geht. Trotzdem, und das unterscheidet sie von den meisten ihrer Leidensgenossen, sind sie auf alles vorbereitet. Das heißt: Sie haben ihren Picknickkorb immer dabei. Per Handy informieren sie denADAC über die aktuelle Verkehrslage. Über Seiten- und Rückspiegel und durch Fensterscheiben kommunizieren sie nonverbal mit den Staugenossen, jovialen ein »Tja, was soll man machen«-Schulterzucken nach rechts, dokumentieren ihre Komplizenschaft mit dem »Herrgott, wann geht das denn endlich weiter«-Choleriker mit pausenlosem Gehämmere auf das Lenkrad nach links und fühlen sich bei alldem im Grunde pudelwohl.
Diesen Leuten ist der chronische Elbtunnelstau die tägliche Dosis Methadon bis zum Beginn der Sommerferien. Und wie bei allen wirklich großen Staus weiß auch bei diesem niemand so recht, wie er überhaupt zustande kommt. Denn wie durch ein Wunder geht es nach dem Tunnel – egal, von welcher Seite man durchfährt – plötzlich zügig weiter, und das kann nicht nur damit zu tun haben, dass wieder irgendeine Röhre gesperrt ist oder neu gebaut wird. Das hat mit etwas Grundsätzlichem zu tun. So etwas wie einem Geburtskanaltrauma. Wie sonst ist es zu erklären, dass es bis zur tiefsten Stelle, die knapp dreißig Meter unter der Wasseroberfläche liegt, kaum vorangeht (ein tastendes, sich gegen die Schwerkraft stemmendes und bremsendes »Nein, ich will nicht«), und wenn diese Stelle überwunden ist, geben plötzlich alle Gas?
Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, warum das nach der Eröffnung der vierten Tunnelröhre, die bis 2002 mithilfe des weltweit größten Bohrkopfs »Trude« (vielleicht eine Abkürzung für »Tief runter unter die Elbe«, vielleicht auch nicht) gefräst wurde, nicht besser geworden ist. Aber vielleicht ist es sogar gut, gewisse Hamburger Eigenarten nicht zu verstehen. Nur: Kennen sollte man sie. Denn am Ende des Tunnels wartet eine ganz neue Welt. Eine Welt aus Wasser, Wind und Möwengeschrei, aus rotem Backstein und prunkvollen Villen, aus hypermodernen Businesstempeln und dem Geruch von Teer und Fisch. Es ist eine ganz eigene Mischung aus Understatement und Größenwahn, mit der
Sie konfrontiert werden, und je nach eigener Befindlichkeit werden Sie das entweder schizophren oder interessant finden.
Überhaupt funktioniert diese Stadt im Grunde wie ein Vexierbild, das mit der eigenen Stimmung kippt. Wie ein Spiegel, der vor allem wiedergibt, wer hineinsieht.
Hamburg ist eine Stadt, die jedes Vorurteil sofort bestätigt. Und sich gleichzeitig in dem Maße entzieht, in dem man versucht, sie auf etwas festzulegen. Eine Stadt, deren Menschen umso britischer tun, je näher man dem Stadtteil Blankenese kommt (in Blankenese selbst braucht ein der englischen Sprache ohnmächtiger Besucher ein Wörterbuch, um zu begreifen, vor was für einem Geschäft er gerade steht), und vielleicht liegt da ja der wahre Grund für den Elbtunnelstau. Vielleicht möchte man die Einreisedauer schlicht der Fahrt durch den britischenchunnel angleichen, jenen fünfzig Kilometer langen Kanaltunnel zwischen Großbritannien und Kontine