Kapitel 2
Alte Flammen brennen lang
Der Citroën 2CV gehörte zur Charleston-Baureihe und hieß Rüdiger. Das, fand Heiland, war aber so ziemlich alles an Positivem, was man über ihn sagen konnte.
Der Motor der altersschwachen Ente keuchte bei jedem Gangwechsel, die Sitzfederung verdiente ihren Namen kaum und schien aus Methusalems Grundschulzeiten zu stammen. Zwei der schwarz lackierten Kotflügel wurden nur noch von Rost und blindem Gottvertrauen an Ort und Stelle gehalten. Doch Rüdiger gehörte zum Pfarrhaus von St. Hilarius wie Fräulein Dimpels Kohlspeisen und der abgewetzte Teppich vor dem Wohnzimmersofa. Schon Heilands Amtsvorgänger hatte die Straßen der Region mit ihm unsicher gemacht, und auch Heiland nutzte den Wagen, wann immer die Situation es erforderte.
Aber nur dann, dachte der Zweiundsechzigjährige. Dann keuchte auch er.
Sein etwas zu rundlicher Bauch passte kaum hinter das Lenkrad des engen Gefährts. Wann immer Rüdiger durch ein Schlagloch fuhr – von denen es auf den Landstraßen rund um Sonntal leider ungefähr so viele geben musste wie Engel am Thron des Allmächtigen –, war Heiland, als führe sein Magen in ihm Fahrstuhl.
Der Pastor hatte die Ortsgrenze vor wenigen Minuten hinter sich gelassen. Nun sah er sich von grünen Wiesen, von Bauer Billens Getreidefeldern und von den ersten Vorboten des nahen Waldes umgeben. Die Morgensonne schien erpicht, die Kälte der Nacht zu einer schwachen Erinnerung verkommen zu lassen, und ein sanfter Wind trieb kleine Schäfchenwolken über einen zunehmend blauer werdenden Himmel. Postkartenwetter – und das in der Nachsaison. Nein, Sonntal konnte sich wirklich nicht beklagen. Jedenfalls nicht über mangelnde Schönheit.
Wenn nur die Morde nicht wären, dachte Heiland.
Hinter jedem Tod steckte ein Menschenleben, das zu Ende ging. Niemand wusste das besser als Pastor Heiland. Und hinter jedemrätselhaften Tod steckte ein Geheimnis.
Letztere faszinierten ihn, so ungern er es auch zugab. Heiland war großer Fan der Kriminalromane um Chief Inspector Timothy Smart, den besten Mann von Scotland Yard, und in den Monaten seit seiner Ankunft in Sonntal hatte auch er das ein oder andere Mal ein bisschen Detektiv spielen dürfen. Ob der heutige Tag ihm erneut die Gelegenheit dafür schenkte? Heiland wusste nicht, ob er darauf hoffen oder sich nach Kräften dagegen wehren wollte. Vermutlich beides.
»Wir fahren erst einmal zum Fundort der Leiche«, erklärte er dem geduldig zuhörenden Rüdiger. »Das allein verpflichtet uns noch zu absolut gar nichts. Richtig?«
Die Ente rumpelte über die Straße. Es klang wie eine Zustimmung.
Der Stausee lag nicht weit vom Ort entfernt. Auf der Sonntal zugewandten Seite des kreisrunden Gewässers befand sich der weitläufige Campingplatz, auf dem während der Urlaubsmonate kaum eine Parzelle frei blieb. Auch jetzt, da er Rüdiger auf den zugehörigen Parkplatz steuerte, sah Heiland noch zahlreiche Wohnwagen, Wohnmobile und Zelte auf dem Gelände stehen. Jenseits von Wasser und Staumauer ragte der dichte Wald gen Himmel, eine dunkle Wand aus Laub- und Nadelbäumen verschiedenster Art. Erst kürzlich hatte Heiland von einem Förster erfahren, dass Sonntals Forstanlagen zu den g