: Anna Mitgutsch
: Haus der Kindheit Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641260125
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Fotografie eines Hauses in einer österreichischen Kleinstadt hatte die Mutter von Max so sehr geliebt, daß sie diese in jeder neuen Wohnung in New York aufstellte, in jeder weiteren, immer ärmlicher werdenden Station ihres Exils. Zurück wollte sie jedoch nie. Daß ihre Schwester den Nazis nicht entkommen konnte, hat sie für immer von ihrem Zuhause abgeschnitten. Und auch Max zieht nichts zurück in die alte Heimat seiner Eltern: Er hat in New York Erfolg als Restaurator, und er führt ein ungebundenes Leben. Dennoch bleibt in ihm eine heimliche Sehnsucht nach Europa wach. Knapp dreißig Jahre nach Kriegsende reist er zurück nach Österreich, findet dort allerdings nicht das in den Träumen seiner Mutter immer verlockender gewordene Haus, sondern trifft auf Beamte, die, unempfindlich gegenüber seiner jüdischen Familiengeschichte, ihn danach fragen, mit welchem Recht er die Rückgabe seines Besitzes überhaupt fordere. Bis ans Herz ernüchtert bricht Max seinen ersten Aufenthalt ab und kommt erst Jahre später wieder zurück.

Rätselhaft für ihn selber ist die Sehnsucht nach dem Ort, an dem seine Mutter für wenige Jahre glücklich war, und auch bei seinem zweiten Aufenthalt findet er keine Erklärung für dieses Gefühl. Dafür trifft er einige Menschen wie Spitzer, den alten Vorsteher der kleinen jüdischen Gemeinde, und eine Frau, die ihn einst sehr geliebt hat. Und er stößt auf eine unsichtbare Stadt, die verborgene Geschichte der Juden, aber in allen diesen Vergangenheiten kann er auf Dauer nicht leben.

Anna Mitgutsch hat einen Roman über Suchen und Finden geschrieben, eine im höchsten Maß aktuelle Geschichte der Liebe zu einer Heimat, die nur noch in der Erinnerung betreten werden kann.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

2


ALSMAX zum ersten Mal seit seiner Emigration wieder nach H. zurückkam, war er zweiundzwanzig und trug die Uniform eines Corporal derUS-Armee. Im Herbst 1945 war H. eine von Bomben zerstörte Stadt wie viele andere, die er gesehen hatte. Die Kriegswunden, die Armut und der feindselige Trotz der Besiegten bedrückten ihn. In den Straßen gab es kaum zivile Autos, nur Militärfahrzeuge und abgemagerte Gestalten auf Fahrrädern und mit Handwagen. Er betrachtete ihre grauen müden Gesichter mit Neugier und auch mit Abneigung. Die Brücke war nicht dieselbe wie in seiner frühen Kindheit, aber wie damals war sie eine Grenze: diesmal die Zonengrenze zum russischen Sektor. Er wohnte in einem von der amerikanischen Militärregierung requirierten Hotel im Stadtzentrum. Das Haus daneben war zur Hälfte eingestürzt, man konnte die Muster der zerfetzten Tapete sehen. Das Straßenpflaster war aufgerissen. Aber selbst die unversehrt gebliebenen Häuser und Straßen strahlten dieselbe graue Müdigkeit aus wie die Gesichter der Passanten.

Es war ein diesiger Herbsttag, als er mit der Adresse seines Elternhauses in der Uniformtasche den Berg hinaufstieg. Die Häuserzeile unten am Hang, wo der Eingang zum Luftschutzstollen gewesen war, schien unbewohnt: vom Luftdruck geplatzte Fensterscheiben, die Dächer abgebrannt, nur die verkohlten Dachstühle hockten noch auf den Mauern. Die herabgefallenen Trümmer waren bereits von den Straßen fortgeräumt.

Oben auf dem Berg waren die Häuser unversehrt geblieben. Das Rascheln der braunen Herbstblätter auf dem Kopfsteinpflaster vertiefte die Stille des Villenviertels. Alles schien so friedlich und unberührt, als hätte es hier keinen Krieg gegeben.

Das Haus erkannte er sofort: die niedrige efeuüberwachsene Mauer, die die Straßenböschung stützte, die hohen Steinstufen, die Erker, die wuchtige Haustür. Die Bäume, die rund um das Haus wuchsen, waren vor seiner Geburt, als das Haus noch im Bau stand, gepflanzt worden. Jetzt waren sie in die Höhe gewachsen und legten eine melancholische Düsternis um das Haus, breiteten feuchte Schatten über die bemoosten Steinplatten, und ihre dicken Äste berührten und verfingen sich ineinander im Kampf ums Sonnenlicht. Die Blätter des Ahorns und die feinen Lärchennadeln glühten in ihren Herbstfarben.

Das Pflanzen der jungen Bäume damals musste eine hoffnungsvolle Zeremonie des jungen Paares gewesen sein. Es gab ein Foto: Mira und Saul, ein wenig älter als Max jetzt war, vielleicht Mitte Zwanzig, beide in sportlich heller Kleidung, halten einen dünnen Setzling über eine flache Grube, wie zur Demonstration, bevor sein Wurzelballen in die Grube versenkt und vergraben werden würde. Das Bäumchen besaß eine einzige Astgabelung und einen Stamm, dünner als Miras Handgelenk. Nun waren über zehn Meter hohe Bäume daraus geworden, und keiner der beiden hatte ihr Wachsen miterlebt. Nur Fremde freuten sich an ihren Herbstfarben.

Vor dem Haus standen ein alter Tretroller, ein Brett mit einer Lenkstange und zwei Gummirädern, rot angestrichen, und ein hellblauer Kinderwagen aus Holz mit den gleichen Rädern wie der Roller. Eine junge, füllige Frau bearbeitete mit einem Teppichklopfer einen Flickenteppich über einer Stange, die den Zugang zur Terrasse versperrte.

Ob sie hier wohne, fragte er und wusste, dass es eine ganz und gar überflüssige Frage war.

Sie schaute ihn feindselig an und schwieg. Er war in Uniform, ein amerikanischer Soldat, sein fehlerfreies Deutsch rief nicht die geringste Spur freundlichen Erstaunens hervor.

Im Frühjahr 1938 hatte Sophie an ihre Schwester in New York geschrieben: Albert ist verhaftet worden. Wenn wir wegmüssen, hinterlege ich einen Reserveschlüssel bei den Nachbarn.

Die Kalischs haben hier gewohnt, sagte Max und schaute sie forschend, fragend an.

Sie machte ein beleidigtes Gesicht, ließ von ihrem Teppich ab und lief an ihm vorbei, schnell und geduckt, als werde sie verfolgt. Er hörte, wie sie den Schlüssel zweimal im Schloss umdrehte. Er klopfte, wartete lange und stellte sich vor, wie sie, nur durch das schwere Holz der Haustür von ihm getrennt, auf der anderen Seite vorsichtig und flach atmete. So standen sie sich lange Minuten unsichtbar gegenüber, in einer Nähe, die Feindseligkeit erzeugen