Was Nell Sweeney an der heutigen Ausgabe desDaily Advertiser zuerst auffiel, noch bevor sie die in großen Lettern gesetzte Überschrift las, war die dem Artikel beigefügte Illustration. Mit raschen Strichen hingetuscht zeigte sie das Porträt einer dunkelhaarigen Dame von faszinierender Schönheit: wild lodernde Augen, kühne Wangenknochen und geschminkte Lippen, die leicht geöffnet waren, sodass ihre Zähne weiß hervorschimmerten. Mit beiden Händen hielt sie einen Dolch umklammert, der so groß wie ein Fleischermesser war.
Die Bildunterschrift lautete:Die verstorbene Mrs Kimball als Lady Macbeth.
Verstorben? Nell setzte sich an den Küchentisch – eine von langem Gebrauch schon recht abgenutzte Kiefernholztafel, an der bei Bedarf auch alle zwanzig Bediensteten der Familie Hewitt Platz fanden –, stellte ihre Kaffeetasse ab und schlug die Zeitung auf.
SCHRECKLICHES VERBRECHEN
IN BEACON HILL
„Drama des Lebens“ nimmt tragisches Ende für
MRS VIRGINIA KIMBALL
Schauspielerin erschossen in ihrem Haus aufgefunden
GANZ BOSTON IN ANGST UND SCHRECKEN
„Lesen Sie gerade den Artikel über die Schauspielerin, die umgebracht worden ist?“, fragte Peter, einer der beiden jungen, blau livrierten Lakaien der Hewitts, und sah vom anderen Ende des langen Tisches herüber, wo er sich mit großem Appetit über sein Frühstück hermachte, das aus kaltem Schinken, Hühnerklein und frisch gebackenen Scones bestand.
Mit einem kurzen Blick auf Gracie, die unter der Aufsicht von Mrs Waters, der Köchin der Hewitts, an der großen Herdstelle auf einem kleinen Trittschemel stand und in einem Topf mit Porridge rührte, legte Nell mahnend einen Finger an die Lippen, damit Peter nicht gar so laut von dem Verbrechen sprach. Als Nell das kleine Mädchen das erste Mal im Morgengrauen mit hinunter in die Küche gebracht hatte, damit es sich einmal ansehen konnte, wo ihr Frühstück, das es jeden Morgen oben im Kinderzimmer serviert bekam, eigentlich zubereitet wurde, hatte die schon recht betagte Köchin schiere Zustände bekommen. Angehörige der Herrschaft pflegten keinen Umgang mit den Dienstboten, und bei der Hausarbeit waren sie schon gar nicht behilflich! Erst als Viola Hewitt sich dann persönlich der Sache angenommen und entschieden hatte, dass Gracie ruhig all das lernen sollte, was Nell als ihre Gouvernante für angemessen hielt, hatte Mrs Waters sich schließlich widerwillig gefügt.
„Die Kleine ist doch gerade viel zu beschäftigt, als dass sie mitbekäme, was wir hier reden.“ Peter deutete mit dem Kinn auf das Bild Virginia Kimballs. „Haben Sie sie mal spielen sehen?“
Nell schüttelte den Kopf, während sie nachdenklich die Porträtzeichnung betrachtete. „Ich dachte, sie hätte sich längst von der Bühne zurückgezogen.“
„Hat sie auch. Aber als Kind hab ich sie mal inRomeo und Julia gesehen. Also, natürlich nicht in der Vorstellung, nur bei der Probe, aber schon so richtig mit Kostümen. Mein Cousin Liam und ich waren nachmittags ins Boston Theatre geschlichen und haben uns oben im ersten Rang versteckt, ganz vorn, um endlich mal einen Blick auf sie zu erhaschen. Auf Plakaten hatten wir sie ja oft gesehen, aber in Wirklichkeit war sie noch viel schöner als auf den Bildern – glaubt man gar nicht, weil sie ja schon damals nicht mehr die Jüngste war. Sie war da bestimmt schon … hmm, mal überlegen … Also, das war in dem Sommer, als ich elf geworden bin, und wenn da in der Zeitung steht, dass sie achtundvierzig war, als sie gestorben ist, dann müsste sie …“ Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, während er grübelnd nachrechnete.
„Dann muss sie damals fünfunddreißig gewesen sein“, kam Nell ihm zuvor. Dem Künstler, der Mrs Kimball gezeichnet hatte, war es gelungen, das leidenschaftliche Funkeln ihrer Augen so einzufangen, dass sie wie eine Wahnsinnige und eine Verführerin zugleich wirkte.
„Als die Probe schon halb durch war“, fuhr Peter fort, „hab ich in einer der Logen kurz ein Licht aufflackern sehen, so als ob jemand sich ein Zündholz anreißen würde. Im Theater gibt es ja ganz vorn an der Bühne so richtig elegante Logen mit roten Samtvorhängen, gleich drei Stück übereinander.“
„Proszeniumslogen“, sagte Nell. Es waren die teuersten Logenplätze im besten Theater Bostons, vielleicht gar die teuersten Theaterplätze im ganzen Land. Die oberste Proszeniumsloge auf der rechten Bühnenseite war für die Hewitts reserviert.
„Hatte sich ‘ne Zigarette angezündet in der Loge“, sagte Peter bedeutungsvoll. „Und obwohl es sonst da drin ganz dunkel war, konnte ich bei jedem Zug deutlich sein Gesicht sehen.“ Vergnügt grinsend tunkte er ein Stück Scone in den milchigen Tee. Sein strohblondes Haar fiel ihm