Kinderland, du Zauberland,
Haus und Hof und Hecken.
Hinter blauer Wälderwand
spielt die Welt Verstecken.
(Detlev von Liliencron)
Ich war ein Wunschkind. Das fünfte meiner Eltern. Ich wurde in eine laute, quirlige und traditionelle Familie hineingeboren. Meine große Schwester ist 12 Jahre älter. Als ich kam, war sie an der Schwelle zur Pubertät und hatte damit ganz andere Lebensthemen. An vielen Tagen war sie gezwungen, mich spazieren zu schieben, damit meine Mutter den restlichen Zirkus bändigen konnte, der sich nie wirklich zähmen ließ. Meine Schwester war wenig erfreut über ihre neue Aufgabe. Ihre Wut ließ sie beim Laufen aus. Hätte es damals bereits Jogger gegeben – sie wäre einen Marathon mit mir und dem Wagen gelaufen. Aber so rollte sie den schaukeligen 70er-Jahre-Kinderwagen zornig und in hohem Tempo über Felder und durch Wälder. Ich selbst fand es grandios und krähte ihr fröhlich ins bockige Teeniegesicht.
Anders hingegen mein großer Bruder. Er wich in den ersten Wochen und Monaten nicht von meiner Seite. Wenn ich gewickelt, gefüttert und bespielt werden musste, war er da. Meine Mama war eine pragmatische Mutter ohne Schnickschnack. Das hochgepriesene Milchpulver der 60er und 70er Jahre ließ sie mit strafender Nichtbeachtung links liegen und tat zu einer Zeit, in der Müttern ihre jahrtausendealte Intuition aberzogen wurde, das, was all ihre Vorfahrinnen auch getan hatten: Sie stillte. Ohne sich dafür zu entschuldigen, wählte sie den schmalen Weg. Obwohl man zuweilen hinter vorgehaltener Hand munkelte, sie wolle ihr Kind „umbringen“, stellte sie den Kinderwagen samt Baby ungerührt fürs Schläfchen in die dezemberliche Eiseskälte. Gut eingepackt natürlich. Ich hatte selten Schnupfen als Kind. Und dann der nächste Skandal (zumindest nach heutigem Standard): Damit ich auch endlich mal länger als zwei Stunden am Stück schlief, gab sie mir bereits mit acht Wochen Beikost in Form von zerdrückten Bananen. Den Job übernahm mein großer Bruder liebend gerne, während ich begeistert versuchte, ihm den bananenverklebten Löffel zu entreißen und in mein Auge zu stechen. So jedenfalls wurde mir berichtet.
So wuchs ich in unserem Zirkus auf. Zu ihm gehörten auch Katzen, immer haufenweise Katzen, die in schrecklicher Regelmäßigkeit überfahren wurden. Und Hühner, Traktoren, ein ganzer Maschinenpark, ein großer Gemüsegarten, Obstbäume und der Holzschuppen, in dem ich mich gerne mit einer Cornflakes-Packung versteckte und diese leerknusperte. Süßigkeiten waren Mangelware.
Viele Gäste gingen auf unserem Gutshof ein und aus. Und ich hängte mich an jeden, um Geschichten zu hören. Geschichten waren meine Lebensader. Ich saß still bei der Kaffeetafel und ließ mich von Gesprächen berieseln. Auf dem grünroten Sessel mit seinen wuchtigen Holzarmlehnen im Wohnzimmer trank die alte Oma Junk aus zarten Porzellantassen Tee. Sie schaute mit mir Bücher an und erzählte mir davon, dass sie als kleines Kind bei einer Parade dem letzten deutschen Kaiser zugewunken hatte. Aufrechtstehende und gehende Baroninnen, Pfarrersfrauen und Bäuerinnen hinterließen den Duft von 4711, Kompetenz und Witz in unserem Haus. Zwei Frauen aus Tansania wohnten ein paar Wochen bei uns. Sie waren Landwirtschaftsschülerinnen, die in unserem Betrieb lernen sollten. (Wie sich das Gelernte