: Virginia Woolf
: Klaus Reichert
: Zwischen den Akten Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104904948
: Virginia Woolf, Gesammelte Werke (Taschenbuchausgabe)
: 1
: CHF 7.50
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
?Zwischen den Akten? »spielt« im Sommer 1939, und die politischen Veränderungen in Europa sind mitzudenken, wenn sie auch nicht beim Namen genannt sind - die Annexionen Österreichs und der Tschechoslowakei, die Bedrohung Polens, der Fall Barcelonas. Alles deutet auf eine bevorstehende Katastrophe, und der größte Teil des Romans wurde denn auch geschrieben, als die Katastrophe bereits geschehen war - die Niederlage Frankreichs, der »Battle of Britain« mit Blitzkrieg und drohender Invasion. Gegen diesen sichtbaren und am eigenen Leib im Süden Englands und in London erfahrenen Untergang der alten Welt lässt Virginia Woolf in ?Zwischen den Akten? noch einmal Revue passieren, was für sie England war, seine Geschichte und Literatur, Landleben und Mentalität - dramatisch gestaltet in einem großen historischen Bilderbogen, episodisch erzählt an einem einzigen Sommertag und voll von lyrischen »Einlagen«, häufig Zitaten, aber ebenso häufig auch nicht, sondern von einzelnen Charakteren »in Imitation« großer englischer Poesie produziert, nach- und anempfunden. Das »vollständige Ganze«, das Virginia Woolf vorschwebte, ist eine Art Gesamtkunstwerk, aber es hat zugleich, wie keiner ihrer früheren Romane, eine Leichtigkeit und Beiläufigkeit, auch den Anschein von Skizzenhaftigkeit, die vielleicht das Raffinement der Konstruktion übersehen lassen. Am 20. März 1941 schickte sie das Typoskript an John Lehmann, den Leiter der Hogarth Press, mit der Bitte, es zu lesen und ihr sein Urteil mitzuteilen - sie selbst halte den »sogenannten Roman« für »viel zu leichtgewichtig und skizzenhaft«, Leonard sei anderer Meinung. Lehmann war begeistert. Etwa am 27. März schrieb ihm Virginia Woolf noch einmal - der Roman sei zu töricht (silly) und trivial, sie wolle ihn gründlich revidieren, jedenfalls in dieser Form nicht publizieren. Als Lehmann diesen Brief erhielt, war sie bereits tot - am 28. März 1941 nahm sie sich das Leben.

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Zwischen den Akten


Es war eine Sommernacht, und sie redeten in dem großen Zimmer, die Fenster offen zum Garten hin, über die Senkgrube. Der Grafschaftsrat hatte versprochen, Wasser ins Dorf zu leiten, aber nichts unternommen.

Mrs Haines, die Frau des Gutsbesitzers, gansgesichtig, mit Augen, die hervorquollen, als erspähten sie im Rinnstein etwas zum Runterschlingen, sagte affektiert: »Wie kann man bloß an solch einem Abend über dergleichen reden!«

Dann trat Schweigen ein; und eine Kuh hustete; und das führte sie dazu zu sagen, wie seltsam es sei, als Kind habe sie nie Angst vor Kühen gehabt, nur vor Pferden. Aber schließlich sei auch, als sie im Kinderwagen gelegen habe, ein großer Karrengaul eine Handbreit vor ihrem Gesicht vorbeigestreift. Ihre Familie, sagte sie zu dem alten Mann im Lehnstuhl, lebe seit vielen Jahrhunderten bei Liskeard. Die Gräber auf dem Kirchhof, die könnten das bezeugen.

Ein Vogel gab draußen glucksende Laute von sich. »Eine Nachtigall?« fragte Mrs Haines. Nein, Nachtigallen kamen nicht so weit nach Norden. Es war ein Tagvogel, der über all das Saftige und Sättigende des Tages, Würmer, Schnecken, Körner, noch im Schlaf in sich hineingluckste.

Der alte Mann im Lehnstuhl – Mr Oliver, Kolonialbeamter in Indien, pensioniert – sagte, die Stelle für die geplante Senkgrube befinde sich, wenn er recht gehört habe, an der Römerstraße. Von einem Flugzeug aus, sagte er, könne man noch immer deutlich die Narben sehen, die von den Britanniern hinterlassen worden seien; von den Römern; von dem elisabethanischen Herrensitz; und von der Pflugschar, als man in den Napoleonischen Kriegen den Hügel für den Weizenanbau beackert habe.

»Sie erinnern sich doch nicht etwa …«, begann Mrs Haines. Nein, nicht daran. Hingegen erinnerte er sich – und er wollte ihnen schon erzählen woran, als es draußen ein Geräusch gab und Isa, die Frau seines Sohnes, eintrat, das Haar zu Zöpfen geflochten; sie trug einen Morgenrock mit verblaßten Pfauen darauf. Sie kam herein wie ein Schwan, der seine Bahn zieht; stieß dann auf ein Hindernis und machte halt; war überrascht, Gesellschaft vorzufinden; und brennende Lampen. Sie habe bei ihrem kleinen Jungen gesessen, dem es nicht gut gehe, entschuldigte sie sich. Worüber sprächen sie gerade?

»Haben uns über die Senkgrube unterhalten«, sagte Mr Oliver.

»Wie kann man bloß an solch einem Abend über dergleichen reden!« rief Mrs Haines erneut aus.

Was hater wohl zur Senkgrube gesagt; oder überhaupt zu irgendwas? fragte sich Isa und neigte den Kopf in die Richtung des Gutsbesitzers Rupert Haines. Sie war ihm auf einem Wohltätigkeitsbasar begegnet; und bei einer Partie Tennis. Er hatte ihr eine Teetasse gereicht und einen Schläger – das war alles. Doch in seinem zerfurchten Gesicht spürte sie immer Geheimnisvolles; und in seinem Schweigen Leidenschaft. Bei der Tennis-Partie hatte sie das verspürt, und auf dem Basar. Jetzt zum dritten Mal, womöglich noch stärker, verspürte sie es wieder.

»Ich erinnere mich«, fuhr der alte Mann dazwischen, »meine Mutter …« Von seiner Mutter erinnerte er, daß sie sehr stämmig war; ihre Teebüchse unter Verschluß hielt; ihm jedoch genau in diesem Zimmer eine Byron-Ausgabe geschenkt hatte. Über sechzig Jahre sei das her, sagte er ihnen, daß seine Mutter ihm genau in dem Zimmer die Werke von Byron geschenkt habe. Er hielt inne.

»In ihrer Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht«,[1] zitierte er.

Und begann dann:

»So hat denn das Schweifen ein Ende beim Lichte des Monds.«[2]

Isa hob den Kopf. Die Worte bildeten zwei Ringe, vollkommene Ringe, die sie beide, sie und Haines, wie zwei Schwäne stromabwärts trugen. Seine schneeweiße Brust war aber von schmutzigem Entengrützgeschlinge umschlossen; und auch sie mit ihren Schwimmfüßen hatte sich verstrickt in ihren Mann, den Börsenmakler. Auf ihrem dreieckigen Stuhl sitzend, wiegte sie sich mit ihren hängenden dunklen Zöpfen, und der Körper, wie ein Polsterkissen in dem verblaßten Morgenrock.

Mrs Haines war sich des Gefühls bewußt, das die zwei umschloß, sie selbst ausklammerte. Sie wartete, wie man darauf wartet, daß der Orgelton ausklingt, ehe man die Kirche verläßt. Auf der Heimfahrt zum roten Gutshaus in den Kornfeldern würde sie es zerstören, wie eine Drossel einem Schmetterling die Flügel abpickt. Zehn Sekunden ließ sie verstreichen, stand auf; zögerte; und streckte dann, als hätte sie den letzten Ton verklingen hören, Mrs Giles Oliver die Hand hin.

Aber Isa, obwohl sie eigentlich im selben Augenblick wie Mrs Haines hätte aufstehen sollen, blieb sitzen. Mrs