Mina
Sie faltet die Seiten und schiebt sie in den Ofen: 1937 wird genauso gut brennen wie die Jahre davor. Sie schliesst die Ofenklappe, bevor das Feuer die Blätter erfasst. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit sie diese Briefe schrieb.
22. Januar 1938
Lieber Oskar,
allerlei Neuigkeiten habe ich Dir heute zu berichten, ich weiss kaum, wo beginnen …
Während Mina die Kellertreppe hinaufsteigt, bemerkt sie die Russspuren an ihren Fingern. Sie hat sich angewöhnt, beim Treppensteigen auf ihre Hand am Geländer zu blicken; die Stufen vor ihr lassen sie schwindeln. Ihre Finger fahren über die Risse in der Bemalung des Geländers. An manchen Stellen ist die weisse Deckfarbe abgeblättert und entblösst eine dunklere Farbschicht darunter. Oskar hatte ihr befohlen, die Kinder in den Keller zu sperren, wenn sie nicht gehorchten. Sie schloss sie im WC ein, durch dessen vergittertes Fenster ein Stück Himmel zu sehen ist. Mina schliesst die Kellertür. Sie schrieb Oskar nicht, dass sie seine Anweisungen nicht befolgte.
Ende letzter Woche war ich vollständig erledigt. Die Arbeit wuchs mir einfach über den Kopf. So muss ich nun Sonntag für Sonntag Strümpfe flicken, bevor ich die Kinder anziehen kann. Meinen letzten Brief wollte ich tatsächlich ausführlicher schreiben, aber meine Zeit ist halt auch knapp bemessen, und es ist mir peinlich, dass aus diesem Grund wichtige Mitteilungen ungewollt aufgeschoben werden. Deine Schuhe sind bis heute nicht angekommen. Hast Du sie abgeschickt?
Mina schrubbt ihre Hände über dem Spülbecken in der Küche mit der Bürste und dem Stück Kernseife, das sie für hartnäckigen Schmutz verwendet. 1938 war sie zweiunddreissig Jahre alt, Mutter von drei Mädchen, und Oskar, ihr Mann, arbeitete im Aussendienst der Georg-Fischer-Werke. Welche wichtigen Mitteilungen hatte sie damals ungewollt aufgeschoben? Sie trocknet die Hände ab. Seit sie begonnen hat, die Briefe zu verbrennen, bilden sich schwarze Ränder um die Ofenklappe. Das nächste Mal wird s