: Gabrielle Alioth
: Die Überlebenden Roman
: Lenos Verlag
: 9783857879951
: 1
: CHF 17.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 280
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mina, Max, Vera - sie sind Kinder und Großkinder des Bäckermeisters August Stutz, der ihr Leben u?ber seinen Tod hinaus prägte. Durch Widerstand, Verdrängung und Flucht haben sie zu entkommen versucht, doch nun, an den Bruchstellen ihres Lebens, mu?ssen sie ihre Vergangenheit neu erinnern und sich ihrer Schuld stellen. Noch einmal liest die Hausfrau Mina die Briefe, die sie in der Kriegs- und Nachkriegszeit an ihren Mann schrieb. Noch einmal kehrt der Vietnampilot Max in die Schweiz zuru?ck. Und zum ersten Mal hört die Schmetterlingszu?chterin Vera, was ihrer Mutter wirklich zustieß. Ihre Geschichten verbinden sich zum lebendigen Portrait einer Schweizer Familie im zwanzigsten Jahrhundert. Sei es die Gewalt des Patriarchats oder des Krieges, seien es äußere Ereignisse oder innere Abhängigkeiten - sie stellen Gewissheiten u?ber Heimat und Zugehörigkeit in Frage. Ein bewegender Roman u?ber das Schweigen in Familien, u?ber den Umgang mit der Vergangenheit und die Suche nach einer eigenen Wahrheit.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman 'Der Narr'. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebu?cher und Theaterstu?cke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Fu?r ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. www.gabriellealioth.com.

Mina


Sie faltet die Seiten und schiebt sie in den Ofen: 1937 wird genauso gut brennen wie die Jahre davor. Sie schliesst die Ofenklappe, bevor das Feuer die Blätter erfasst. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit sie diese Briefe schrieb.

22. Januar 1938

Lieber Oskar,

allerlei Neuigkeiten habe ich Dir heute zu berichten, ich weiss kaum, wo beginnen …

Während Mina die Kellertreppe hinaufsteigt, bemerkt sie die Russspuren an ihren Fingern. Sie hat sich angewöhnt, beim Treppensteigen auf ihre Hand am Geländer zu blicken; die Stufen vor ihr lassen sie schwindeln. Ihre Finger fahren über die Risse in der Bemalung des Geländers. An manchen Stellen ist die weisse Deckfarbe abgeblättert und entblösst eine dunklere Farbschicht darunter. Oskar hatte ihr befohlen, die Kinder in den Keller zu sperren, wenn sie nicht gehorchten. Sie schloss sie im WC ein, durch dessen vergittertes Fenster ein Stück Himmel zu sehen ist. Mina schliesst die Kellertür. Sie schrieb Oskar nicht, dass sie seine Anweisungen nicht befolgte.

Ende letzter Woche war ich vollständig erledigt. Die Arbeit wuchs mir einfach über den Kopf. So muss ich nun Sonntag für Sonntag Strümpfe flicken, bevor ich die Kinder anziehen kann. Meinen letzten Brief wollte ich tatsächlich ausführlicher schreiben, aber meine Zeit ist halt auch knapp bemessen, und es ist mir peinlich, dass aus diesem Grund wichtige Mitteilungen ungewollt aufgeschoben werden. Deine Schuhe sind bis heute nicht angekommen. Hast Du sie abgeschickt?

Mina schrubbt ihre Hände über dem Spülbecken in der Küche mit der Bürste und dem Stück Kernseife, das sie für hartnäckigen Schmutz verwendet. 1938 war sie zweiunddreissig Jahre alt, Mutter von drei Mädchen, und Oskar, ihr Mann, arbeitete im Aussendienst der Georg-Fischer-Werke. Welche wichtigen Mitteilungen hatte sie damals ungewollt aufgeschoben? Sie trocknet die Hände ab. Seit sie begonnen hat, die Briefe zu verbrennen, bilden sich schwarze Ränder um die Ofenklappe. Das nächste Mal wird s